Evernight Bd.1 Evernight
irgendwann mal darüber.« Damit ließ er das Thema fallen und hörte auf, sich über die Nacht des Herbstballes Gedanken zu machen, und nun war unsere gemeinsame Zeit wieder wunderschön. Beinahe perfekt. Wir lernten gemeinsam in der Bibliothek oder im Klassenraum meiner Mutter, manchmal zusammen mit Vic oder Raquel. Gemeinsam aßen wir mittags auf dem Schulgelände, meist Sandwiches, die wir in braune Tüten gewickelt und in unsere Manteltaschen gestopft hatten. Während des Unterrichts hing ich Tagträumen nach, in denen er die Hauptrolle spielte, und riss mich nur so häufig aus meinem glücklichen Dämmerzustand, wie es nötig war, um nicht völlig den Anschluss zu verlieren. An den Tagen, an denen wir unseren gemeinsamen Chemiekurs hatten, liefen wir Seite an Seite zu Iwerebons Raum und wieder zurück. An anderen Tagen suchte er mich, sobald der Unterricht vorbei war, und es war so, als ob er sogar noch mehr an mich gedacht hatte als ich an ihn.
»Du musst dich damit abfinden«, flüsterte Lucas mir eines Sonntagnachmittags zu, als ich ihn in die Wohnung meiner Eltern eingeladen hatte. Taktvollerweise hatten sie uns begrüßt und danach den Rest des Tages ungestört in meinem Zimmer abhängen lassen. Wir lagen eng beieinander auf dem Boden, ohne uns zu berühren, und starrten zu dem Klimtdruck hoch. »Ich verstehe nichts von Kunst.«
»Du musst auch gar nichts verstehen. Du musst nur das Bild ansehen und sagen, was du dabei fühlst.«
»Ich bin auch nicht besonders gut darin zu sagen, was ich fühle.«
»Ja, habe ich bemerkt. Versuch’s doch einfach mal, okay?«
»Gut, in Ordnung.« Er dachte lange und angestrengt nach, während er das Bild Der Kuss unverwandt anschaute. »Ich glaube… Ich glaube, ich mag es, wie er ihr Gesicht in den Händen hält. Als ob sie das Einzige wäre, was ihn auf dieser Welt glücklich macht, und das Einzige, was wirklich zu ihm gehört.«
»Siehst du das tatsächlich in dem Gemälde? Für mich sieht er… stark aus.« Der Mann in Der Kuss wirkte auf jeden Fall so, als habe er die Situation unter Kontrolle; die dahinschmelzende Frau schien es zu mögen, zumindest in diesem Augenblick.
Lucas wandte sich zu mir um, und ich ließ meinen Kopf zur Seite sinken, sodass sich unsere Gesichter ganz nah waren. Die Art, wie er mich ansah, eindringlich, ernst und voller Sehnsucht, brachte mich dazu, den Atem anzuhalten. Er sagte nur: »Vertrau mir. Ich weiß, dass ich das richtig verstanden habe.«
Wir küssten uns, und dann erwischte Dad mal wieder den besten Moment, um uns zum Abendessen zu rufen. Das Timing von Eltern hat etwas Gruseliges. Sie versuchten das Beste aus dem Abendessen zu machen und nahmen sogar normale Nahrung zu sich und taten so, als ob sie es genießen würden.
So eng mit Lucas zusammen zu sein bedeutete, dass ich weniger Zeit für meine übrigen Freunde hatte, auch wenn ich mir das anders wünschte. Balthazar war so freundlich wie immer, grüßte mich auf dem Gang und nickte Lucas zu, als wäre dieser sein Kumpel und nicht jemand, der ihn in der Nacht des Herbstballes beinahe angegriffen hätte. Aber seine Augen waren traurig, und ich wusste, dass ich Balthazar verletzt hatte, indem ich ihm keine Chance gegeben hatte.
Raquel war ebenfalls einsam. Auch wenn wir sie manchmal einluden, einen Abend lang mit uns zusammen zu lernen, aßen sie und ich nie wieder gemeinsam unser Mittag. Sie hatte sich sonst niemand anderem angeschlossen, soweit ich wusste. Lucas und ich hatten mal die halbgare Idee gehabt, sie mit Vic zu verkuppeln, aber bei den beiden schien es einfach nicht klick zu machen. Sie hingen mit uns herum und hatten Spaß, aber das war auch schon alles.
Einmal entschuldigte ich mich bei ihr dafür, dass ich so viel weniger Zeit mit ihr verbrachte, aber sie winkte ab. »Du bist verliebt. Das macht dich langweilig für Leute, die nicht verliebt sind. Du weißt schon, die Zurechnungsfähigen.«
»Ich bin nicht langweilig«, protestierte ich. »Auf jeden Fall nicht mehr, als ich es vorher war.«
Raquel antwortete, indem sie die Hände zusammenschlug und mit glasigem Blick zur Decke der Bibliothek emporstarrte. »Wusstest du schon, dass Lucas den Sonnenschein liebt? Das tut er wirklich! Und Blumen und Häschen. Und habe ich dir überhaupt schon von den faszinierenden Schnürsenkeln erzählt, die Lucas in seinen faszinierenden Schuhen trägt?«
»Halt den Mund.« Ich boxte sie gegen die Schulter, und sie lachte. Trotzdem war da eine seltsame
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