Evernight Bd.1 Evernight
tatsächlich alles vergessen hatte, aber dann fragte ich mich ängstlich, ob er auch unsere Küsse aus dem Gedächtnis gestrichen hatte. Doch wie dem auch war, es wurde Zeit, dass ich mich dem, was ich angerichtet hatte, stellte.
Ich lief über das Schulgelände und schenkte den Schülern keine Beachtung, die am anderen Ende des Rasens Rugby spielten, obwohl ich bemerkte, wie manche von ihnen in meine Richtung glotzten und ich auch vereinzelt wirklich dreckiges Gelächter hörte. Courtney hatte geplaudert, ganz ohne Zweifel: Wahrscheinlich wusste jeder Vampir in der Schule, was ich getan hatte. Beschämt und wütend eilte ich zum Kutscherhaus und hielt mitten im Lauf inne, als ich Lucas auf mich zukommen sah. Er erkannte mich und hob beinahe verlegen die Hand.
Ich wollte wegrennen, aber Lucas verdiente Besseres, und so musste ich meine Scham überwinden. Ich zwang mich, zu ihm hinüberzugehen, und rief: »Lucas, alles in Ordnung?«
»Ja.« Die trockenen Blätter auf dem Boden raschelten, bis wir schließlich voreinander stehen blieben. »Himmel, was ist passiert?«
Mein Mund war trocken. »Haben sie es dir nicht erzählt?«
»Doch, haben sie - ein Balken hat mich am Kopf getroffen. Wirklich?« Seine Wangen waren rot vor Verlegenheit, und er schien beinahe zornig, sei es auf den Pavillon, sei es auf die Schwerkraft oder sonst irgendetwas. Ich hatte schon zuvor gesehen, wie Lucas seine Coolness eingebüßt hatte, aber so kannte ich ihn nicht. »Habe mir an diesem dämlichen Geländer meine Kehle aufgerissen… Gibt es etwas Dümmeres? Und dann kann ich mich nur noch daran erinnern, dass uns irgendetwas in die Quere gekommen ist, während ich dich zum ersten Mal geküsst habe.«
Jemand Mutigeres als ich hätte Lucas an Ort und Stelle noch mal geküsst. Ich aber starrte ihn nur an. Er sah grundsätzlich gut erholt aus. Zwar war er noch immer blass, und ein dicker, weißer Verband bedeckte seinen Hals, aber ansonsten war es wie an jedem anderen Tag. In der Ferne konnte ich sehen, wie uns einige Leute neugierig beobachteten. Ich versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass wir Zuschauer hatten.
»Ich dachte… Ich meine, ich schätze…« Bevor ich noch weiter den Faden verlieren konnte, sagte ich rasch: »Zuerst dachte ich, dass du in Ohnmacht gefallen bist. Diesen Effekt habe ich auf Jungs. Es ist einfach zu intensiv. Sie können es nicht aushalten.«
Lucas lachte. Es klang irgendwie hohl, aber er lachte. Es war wirklich in Ordnung; er erinnerte sich an gar nichts. Erleichtert legte ich die Arme um ihn und drückte ihn kräftig an mich. Lucas hielt mich ebenfalls fest, und einige Momente lang standen wir dort, aneinandergeklammert, und ich konnte mir vormachen, dass nichts schiefgelaufen war.
Seine Haare glänzten im Sonnenlicht wie Bronze, und ich schwelgte in seinem Geruch, so wie ich den Duft des Waldes rings um uns herum einsog. Es fühlte sich so gut an, das Wissen, dass er mein war. Ich konnte ihn so festhalten, hier draußen, weil wir nun zueinandergehörten. Und in jeder Sekunde, in der wir uns berührten, wurden die Erinnerungen stärker: daran, wie ich ihn geküsst hatte, seine Hände auf meinem Rücken, die salzige Zartheit seiner Haut zwischen meinen Zähnen und an das heiße Blut, das in meinen Mund hineingesprudelt war.
Mein.
Nun wusste ich, was meine Mutter gemeint hatte. Einen Menschen zu beißen war nicht so einfach, wie einen Schluck aus einem Glas zu nehmen. Als ich Lucas’ Blut trank, wurde er ein Teil von mir, und ich wurde ein Teil von ihm. Wir waren nun aneinander gebunden, auf eine Weise, die ich nicht kontrollieren konnte und die Lucas niemals verstehen würde.
Machte das die Art, mit der er mich in seinen Armen wiegte, weniger real? Ich schloss fest die Augen und hoffte, dass dem nicht so war. Es war zu spät, um irgendetwas anderes zu tun.
»Bianca?«, murmelte er in mein Haar.
»Ja?«
»Letzte Nacht - bin ich da einfach so in das Geländer gefallen? Mrs. Bethany erzählte mir, dass sich der Balken gelöst habe, aber mir kommt es so vor… Nun ja, ich erinnere mich an gar nichts mehr so richtig. Was ist mit dir? Erinnerst du dich an was?«
Offenbar meldete sich wieder sein altes Misstrauen gegenüber Evernight. Eigentlich hätte ich mit Nein antworten müssen, aber ich brachte es nicht über mich. Es wäre einfach eine Lüge zu viel. »Ein bisschen. Ich meine, es ging alles so schnell, und ich… ich glaube, ich bin in Panik geraten. Es ist alles recht verschwommen, wenn du
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