Evernight Bd.1 Evernight
er gefiel mir. »Du wirst hier wirklich erwachsen, Bianca. Die Zeit in Evernight… verändert dich sehr zum Positiven.«
Ich rollte mit den Augen und war dieses Dein-Vaterweiß-alles-besser-Getue schon wieder leid. »Das passiert ganz automatisch, wenn man es aushalten muss, anders zu sein.«
»Ich verrate dir was Neues: So ist das eben an der Highschool.«
»Du tust ja so, als ob du tatsächlich selbst eine Highschool besucht hättest.«
»Vertrau mir, auch im elften Jahrhundert war es ätzend, ein Jugendlicher zu sein. Die Menschheit verändert sich permanent, aber einiges bleibt immer gleich: Die Leute drehen durch, wenn sie sich verlieben, die Leute wollen, was sie nicht bekommen können, und die Jahre zwischen zwölf und achtzehn nerven immer gewaltig.«
Als wir von der Hauptstraße abbogen, wurde Dad wieder ernst. »Wir haben keine Aufsicht auf der anderen Seite des Flusses. Halt dich also ans Ufer, wenn du Angst hast, die Orientierung zu verlieren.«
»Ich kann gar nicht die Orientierung verlieren.« Ich zeigte nach oben in den klaren Nachthimmel, an dem all die Sternbilder darauf warteten, mir den Weg zu weisen. »Wir sehen uns später.«
Auch wenn es bislang noch nicht geschneit hatte, so hatte doch der Winter die Landschaft fest im Griff. Der Boden unter meinen Füßen knirschte vom Frost, und abgestorbenes Gras und blätterloses Unterholz kratzten an meinen Jeansbeinen, während ich mir einen Weg am Ufer entlang bahnte. Fahle Birkenstämme hoben sich vor den anderen Bäumen ab wie Blitze in einer stürmischen Nacht. Am Ende blieb ich tatsächlich nahe am Wasser, allerdings nicht, weil ich mir Sorgen gemacht hätte, dass ich mich verirren könnte, sondern weil das bei Raquel vermutlich der Fall gewesen war. Und wenn sie diese Richtung genommen hätte, wäre es ihr bestimmt lieb gewesen, wenn sie sich am Fluss hätte orientieren können.
Sie wäre nie einfach so davongelaufen. Wenn Raquel wirklich diesen Weg gegangen wäre, dann hatte sie sich auf keinen Fall einfach verlaufen.
Meine überaktive Einbildungskraft war immer schnell dabei, sich die schlimmsten Fälle auszumalen, und ließ schreckliche Szenen vor meinem geistigen Auge aufblitzen: Raquel, die von irgendwelchen Stadtburschen ausgeraubt worden war, die eines der »reichen Kids« der Schule bestehlen wollten. Raquel, die versuchte, vor den betrunkenen Bauarbeitern davonzulaufen, die wir im Pizzarestaurant gesehen hatten und die sich durch meine Sorge von Beschützern der Frauen in Jäger verwandelt hatten. Ich sah Raquel vor mir, wie sie von irgendeiner Trauer, die sie heimsuchte, überwältigt wurde, in die eisigen Fluten des Flusses watete und von der mächtigen Strömung davongerissen wurde.
Ein kurzer, raschelnder Laut ließ mich zusammenfahren, aber es war nur eine Krähe, die von Ast zu Ast hüpfte. Erleichtert stieß ich den Atem aus, bemerkte dann aber, dass weiter westlich ein leuchtender Fleck in den Büschen zu erkennen war.
Ich eilte in diese Richtung und rannte so schnell ich konnte. Mal öffnete ich den Mund, um Raquels Namen zu rufen, schloss ihn dann aber immer wieder, ohne einen Laut von mir zu geben. Wenn das vor mir wirklich Raquel wäre, würde ich es noch schnell genug herausfinden. Wenn nicht, dann wollte ich keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich lenken.
Als ich näher kam, ging mein Atem schwer vor Erschöpfung, aber ich hörte Raquels Stimme. Und auch wenn ich im ersten Augenblick erleichtert war, legte sich dieses Gefühl sehr rasch, als ich ihre ängstlichen Worte hörte: »Lass mich in Ruhe!«
»Hey, was ist dein Problem?« Ich kannte diese Stimme, die zu selbstbewusst und spöttisch war. »Du benimmst dich ja, als ob wir uns noch nie vorher getroffen hätten.«
Erich! Er war nicht mit auf den Schulausflug in die Stadt gekommen. Alle anderen Evernight-Typen ebenfalls nicht; sie schienen das für langweilig zu halten. Noch wahrscheinlicher war, dass sie einfach ganz versessen darauf waren, einige Zeit herumzuhängen und ganz sie selbst zu sein, ohne ihre wahre Natur verbergen zu müssen. In diesem Augenblick jedoch schien es, dass Erich seiner wahren Natur viel zu nahe war. Offenbar war er uns nach Riverton gefolgt und hatte darauf gewartet, dass irgendjemand allein herumzog - und das war Raquel gewesen.
»Ich habe dir schon gesagt, dass ich mich nicht mit dir unterhalten will«, beharrte Raquel. Sie hatte Angst. Normalerweise machte sie den Eindruck, hart im Nehmen zu sein, aber die Tatsache, dass Erich
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