Evernight Bd.1 Evernight
Strickpullover über und hüllte mich in meinen grauen Wintermantel, an dessen Aufschlag noch immer meine Anstecknadel festgepinnt war. So trottete ich nach unten, um zu einem Spaziergang aufzubrechen. Ich wusste, dass ich bis auf die Knochen durchfrieren würde, aber wenn die ersten Fußstapfen auf dem Schulgelände und im Wald von mir stammen würden, wäre es die Sache wert.
Als ich an der Tür ankam, bemerkte ich, dass ich nicht die Einzige war, der diese Idee zu gefallen schien. Balthazar lächelte mich über seinen roten Schal hinweg gutmütig an. »Hunderte von Jahren in Neuengland, und ich werde immer noch aufgeregt, wenn ich Schnee sehe.«
»Ich kann es dir nachfühlen.« Die Stimmung zwischen uns war immer noch seltsam, aber es war nur höflich vorzuschlagen: »Wir sollten zusammen spazieren gehen.«
»Ja, lass uns aufbrechen.«
Zuerst sagten wir nicht viel, aber es war kein angespanntes Schweigen. Der Schnee und das rosagoldene Licht des frühen Morgens luden zur Stille ein, und keiner von uns wollte mehr hören als das gedämpfte Knirschen unserer Stiefel im Schnee. Unser Weg führte uns über die Rasenflächen in den Wald. Die gleiche Route hatten wir auch am Abend unseres Herbstballs genommen. Ich atmete ein und aus und pustete graue Wolken in den Winterhimmel.
Um Balthazars Augenwinkel herum sah ich Fältchen, als ob er amüsiert oder zumindest zufrieden wäre. Ich dachte an all die Jahrhunderte, die er schon erlebt haben musste, und die Tatsache, dass er noch immer niemanden hatte, der die Zeit mit ihm teilte.
»Kann ich dir eine persönliche Frage stellen?«
Er blinzelte und schien überrascht, aber nicht beleidigt. »Na klar.«
»Wann bist du gestorben?«
Anstatt mir sofort zu antworten, lief er einige Schritte weiter. Die Art, wie er den Horizont betrachtete, brachte mich auf die Idee, dass er sich daran zu erinnern versuchte, wie die Dinge gewesen waren, ehe er gestorben war.
»1691.«
»In Neuengland?«, fragte ich, denn mir fiel ein, was er gerade erzählt hatte.
»Ja. Eigentlich gar nicht so weit von hier entfernt. In derselben Stadt, in der ich geboren wurde. Ich habe sie lediglich ein paar Mal verlassen.« Balthazars Blick war abwesend. »Ich habe nur einen Ausflug nach Boston gemacht.«
»Wenn dich das traurig macht…«
»Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe schon lange nicht mehr über zu Hause gesprochen.«
Eine hungrige Krähe hockte auf dem Zweig einer Stechpalme ganz in der Nähe, schwarz und glänzend inmitten der scharfkantigen Blätter, und pickte an den Beeren. Balthazar beobachtete den Vogel bei seiner Tätigkeit, wahrscheinlich, um mir nicht in die Augen schauen zu müssen. Was auch immer er erzählen wollte, ich wusste, dass es ihm schwerfiel. »Meine Eltern haben sich früh hier niedergelassen. Sie sind zwar nicht mit der Mayflower rübergekommen, aber nur kurz danach. Meine Schwester Charity wurde auf der Überfahrt geboren. Sie war schon einen Monat alt, ehe sie zum ersten Mal trockenes Land sah. Meine Eltern sagten immer, dass sie das unstet gemacht habe und dass sie nicht mit der Erde verwurzelt sei.« Er seufzte.
»Charity. Das ist ein puritanischer Name, oder?« Ich glaubte, mich daran zu erinnern, dass ich ihn einmal in einem Buch gelesen hatte, aber ich konnte mir Balthazar einfach nicht wie einen der Pilgerväter, für einen Erntedankumzug verkleidet, vorstellen.
»Die Ältesten pflegten nicht zu sagen, dass wir gläubig wären. Wir wurden nur in der Kirche geduldet, weil…« Mein Gesicht musste meine Verwirrung verraten haben, denn er lachte. »Alte Geschichte. Nach modernem Standard war meine Familie tief religiös. Meine Eltern haben meine Schwester nach einer der heiligen Tugenden benannt. Sie glaubten, dass diese Tugenden etwas wären, was wirklich real wäre, auch wenn sie in weiter Ferne lägen, so wie die Sonne oder die Sterne.«
»Wenn sie so religiös waren, warum haben sie dir denn einen so sperrigen Namen wie Balthazar gegeben?«
Er warf mir einen Blick zu. »Balthazar war einer der Drei Weisen, die dem Christuskind ihre Gaben brachten.«
»Oh.«
»Ich wollte nicht, dass du dich schlecht fühlst.« Eine breite Hand legte sich auf meine Schulter, allerdings nur einen Augenblick lang. »Nur wenige Menschen bringen das heutzutage noch ihren Kindern bei. Damals war es weitverbreitetes Wissen. Die Welt hat sich sehr verändert, und es ist schwer, nicht den Anschluss zu verlieren.«
»Du musst sie alle sehr vermissen. Deine Familie, meine
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