Evers, Horst
sehr
Beruhigendes, Verlässliches. Niemand kommt auf so schwachsinnige Ideen wie mal
rausgehen oder gar einen Ausflug ins Grüne machen.
Nein, man
bleibt schön im Warmen sitzen und wartet auf den Frühling, wie es sich gehört.
Sitze im
Warmen, also in der Friedhofskapelle Burlage, und verfolge den
Beerdigungsgottesdienst für meinen Onkel Herbert. Draußen windet und nieselt
es. Mehr niedersächsischer Herbst geht nicht. Ich bin zufrieden. Die Familie
ist in Berlin geblieben. Eigentlich wollten sie mitkommen, weil sie den Onkel,
so wie ich, sehr gern hatten, aber dann habe ich ihnen mit leuchtenden Augen
vom Herbst in Niedersachsen erzählt. Plötzlich hatten sie Termine. Die
Friedhofskapelle ist recht klein. Sie bietet bei weitem nicht genug Platz für
die vielen Trauergäste. Das war schon immer so. Die Jüngeren müssen stehen, die
Älteren können sitzen, der Gestorbene darf liegen, als Einziger. Irgendwie
gerecht, diese Kapelle. Je näher man dem Tod ist, desto bequemer hat man es.
Ich darf zum ersten Mal sitzen. Immerhin. Als mir jedoch ein Sitzkissen
angeboten wird, lehne ich erschrocken ab. Auch die Polizei und das örtliche
Sägewerk haben eine Abordnung geschickt. Sie haben Onkel Herbert bei dem
Kreisverkehrvorfall im vorletzten Sommer schätzen gelernt. Und der übertrieben
große, anonyme Kranz soll vom Besitzer des Innenstadthotels bezahlt worden
sein. «In tiefer Dankbarkeit» steht auf der Schleife. Das, so wird allgemein
vermutet, kann nur dessen Dankbarkeit meinen, ungestraft über die
Hotelterrasse seines Bruders fahren zu können. Doch der Florist schweigt
eisern, was seinen Auftraggeber angeht. Eigentlich verbindet mich mit meinem
Onkel Herbert ja außer dem großen Kreisverkehrsbahnhof nur eine Geschichte.
Die aber wurde, obwohl ich selbst fast keine Erinnerung daran habe, prägend für
mich. Irgendwann in meiner Kindheit, ich muss damals so zehn, elf Jahre alt
gewesen sein, hat mich mein Onkel gefragt:
«Und,
Horst? Was willst du denn mal machen, wenn du groß bist?»
Und ich
muss wohl geantwortet haben: «Ausschlafen.»
Zumindest
erzählte Onkel Herbert diese Geschichte seitdem zu jedem passenden und
unpassenden Anlass, bei jedem Familienfest, jeder Feier, jedem Besuch, einfach
immer, wenn wir uns begegneten. Rund dreißig Jahre habe ich immer wieder diese
Geschichte von ihm gehört. Vermutlich verbreitete er sie auch, wenn ich nicht
dabei war. Viele, fast alle Menschen haben irgendwann, irgendwie in ihrer
Kindheit mal etwas gemacht oder gesagt, woran sie sich zwar nicht mehr wirklich
erinnern, was ihnen jedoch immer wieder als Anekdote erzählt wird. Eine
Freundin hat wohl als Achtjährige die tote Katze in einem Gefrierbeutel in die
Tiefkühltruhe gelegt, nachdem sie einen Film mit Louis de Funes gesehen hatte,
in dem ein Mensch hundert Jahre eingefroren und dann wieder aufgetaut worden
war. In der Hoffnung, die Katze in ein, zwei Jahren wieder zum Leben erwecken
zu können. Zwei Tage später stand die Mutter dann schreiend mit dem
steifgefrorenen Tier in der Küche. Seitdem, also seit fünfundzwanzig Jahren, wird
diese Geschichte wohl immer erzählt, wenn es Eis gibt. Die Freundin mag heute
kein Eis mehr und hat eine Katzenallergie. Meine Cousine soll auf die Frage,
wen sie denn einmal heiraten wolle, geantwortet haben: Das sei ihr egal, Hauptsache,
er rieche nicht nach Pups. Das wird seither in jeder Hochzeitsrede der
weitläufigen Verwandtschaft erwähnt, und dann riechen alle am Bräutigam. Mein
ehemaliger Mitbewohner hat als Dreijähriger angeblich beim Metzger immer ein
Schwein nachgemacht, um noch eine Scheibe Wurst zu bekommen. Bis weit in die
Pubertät verlangte die Familie daher für jede Scheibe Wurst eine
Schweineparodie von ihm. So wurde er Vegetarier. Vielleicht ist ja auch meine
Kindheitsepisode mit Onkel Herbert der eigentliche Grund, warum ich ständig so
müde bin. Ich möchte das nicht ausschließen. Der Pastor beginnt nun seine
Trauerrede und eröffnet sie mit einer Anekdote aus seiner Kindheit. Er ist in
meinem Alter, kommt aus Twistringen, was fünf Dörfer weiter liegt, und kannte
meinen Onkel wohl schon als kleiner Junge. Onkel Herbert habe ihn, so der
Pastor, als Kind mal gefragt, was er denn machen wolle, wenn er mal groß sei.
Und er habe, laut meinem Onkel, geantwortet: Ausschlafen. Die Gemeinde kichert.
Nur ich und drei weitere Männer murmeln deutlich hörbar: «Ach nee.»
Womöglich
hat mein Onkel eine ganze Generation in Niedersachsen
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