Evers, Horst
den vierten Stock. Schon im zweiten Stock
jedoch geschah dann das Unglück. Denn dort standen die drei gefüllten
Nikolausstiefel der Kumbat-Söhne. Wie gesagt, hatte er unfassbar großen Hunger
und war betrunken. Es muss alles ganz schnell gegangen sein. Als er wieder zu
sich kam, saß er auf der Treppe und hatte einen der drei Stiefel ratzeputz leer
gegessen. Dann jedoch kam sofort das schlechte Gewissen. O Gott, was wenn die
drei Jungs am Morgen vor die Tür schauen? Zwei mit vollen Stiefeln, und einer
kriegt nichts. Überhaupt gar nichts. Wenn das kein Trauma gibt. Es half alles
nichts: Um das eine Kind irgendwie zu schützen, sah er keine andere Möglichkeit,
als die anderen beiden Stiefel auch komplett leer zu essen. Das war schon
deutlich schwieriger, aber um den Jungs eine glückliche Kindheit zu bewahren,
stopfte er die Süßigkeiten ohne Rücksicht auf Verluste in sich rein. Dann war
ihm übel. Aber so richtig übel. Von den rund anderthalb Kilo Süßigkeiten - und
vom immer stärker werdenden schlechten Gewissen. Drei Kinder vor leeren
Nikolausstiefeln. Mit einem Schlag war ihm das ganze Ausmaß seiner verwerflichen
Tat bewusst. Nein, so ging das nicht. Er durfte sich jetzt nicht einfach
davonstehlen. Er hatte gefehlt, jawohl, am frühen Nikolausmorgen war er geprüft
worden, und er hatte gefehlt, aber er würde wenigstens zu seiner Schandtat
stehen. Er beschloss, zu klingeln und alles zu erklären. Bis heute frage ich
mich, was für ein Gefühl es als Vater sein muss, wenn man am Nikolausmorgen um
fünf Uhr früh mit Sturmklingeln aus dem Bett geholt wird, von einem völlig
betrunkenen und schokoladebeschmierten Untermieterstudenten, der einem lallend
verkündet, dass er soeben versehentlich die drei Nikolausstiefel seiner Söhne
ratzeputz leer gefressen hat. Dann von diesem Studenten fast umgerissen zu
werden, weil der plötzlich und unangekündigt zur Toilette stürzt, wo dann alles
nur noch viel, viel schlimmer wird. Bevor dann endlich ebendieser Student auf
ebendieser Toilette genauso überraschend in einen tiefen, regungslosen Schlaf
fällt.
Also, für
diesen eigentlich etwas unvorteilhaften ersten Eindruck hat Herr Kumbat doch
relativ gelassen reagiert. Natürlich musste ich später Badezimmer, Flur und
Treppenhaus putzen. Und natürlich fünf Jahre lang bei Kumbats den
Weihnachtsmann spielen. Aber gemessen an diesem Vorfall - also man muss
wirklich sagen, das hätte auch schlimmer kommen können. Obwohl ich vermutlich der
einzige Weihnachtsmann in ganz Berlin war, der nach der Bescherung der
bescherten Familie auch noch das Bad geputzt hat, fünf Jahre lang. Das war
dann eben auch so eine Art Tradition.
Die beige Einzelzelle der Liebe
Philipp
trägt einen hässlichen Pullover. Das ist grundsätzlich nichts Schlimmes oder
Ungewöhnliches. Ich trage auch von Zeit zu Zeit ganz gerne mal einen hässlichen
Pullover. Teilweise sogar mit Absicht. Es gibt so eine Art hässliche Pullover,
die kommt bei Frauen eigentlich recht gut an. Also zumindest bei einigen
Frauen. Solche Pullover lösen bei diesen Frauen so eine Art Mutter- oder
Beschützerinstinkt aus: «Um Gottes willen, was ist das denn für ein Pullover?
Der arme, arme Mann. Ich muss diesen Mann vor seinen Pullovern schützen. Aber
wie kann man ihn nur retten? Was kann ich nur tun? Na, ich denke, wir sollten
miteinander schlafen. Das lenkt ihn vielleicht ein bisschen ab, vielleicht kann
man ihn so vor seinen Pullovern retten. Einen Versuch ist es wert.»
Nicht
selten sind es wohl Gedanken wie diese, die die Basis einer langen und
glücklichen Beziehung bilden. Philipp trägt den Pullover aber nicht, um eine
Partnerin zu finden. Im Gegenteil, er hat sogar schon eine Ehefrau, und ein
Kind hat er noch dazubekommen, und genau deshalb trägt er auch den Pullover.
Denn der ist sein Geburtstagsgeschenk, vom Kind, die erste eigene Strickarbeit
des Sohnes. Ein toller Pullover, sagt Philipp. Das sagt auch Jana, die Mutter
des Kindes. Ja, das stimmt, der Pullover ist wirklich toll, aber leider hässlich.
Er sieht
aus wie ein norddeutsches Ziegeldach nach einem Jahrhundertsturm. Überall sind
undefinierbare Lücken, sodass man sich ständig fragt, ob das die Versicherung
wohl zahlt. Die Farbe ist irgendwie eine Variation in Beige. Dunkelbeige würde
ich sagen. Der Farbname Beige wurde ja nur erfunden, weil es zu unappetitlich
ist zu sagen, irgendetwas sei kotzefarben. Aber dieser Pullover ist ja dunkelbeige.
Die Ärmel sind rund zehn Zentimeter zu
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