Evers, Horst
Mein
Nachbar hat nur ein Wort für Schnee, dafür aber, grob geschätzt, so um die
zweihundert verschiedene Bestimmungswörter für den immergleichen Schnee:
Scheißschnee, Drecksschnee, Mistschnee, Doofschnee, Arschschnee,
Idiotenschnee, Stinkeschnee ... Seit rund anderthalb Jahren darf mein Nachbar
wegen der Familie nicht mehr in der Wohnung rauchen. Seitdem steht er auf dem
Balkon, raucht und schimpft zitternd und bibbernd vor sich hin. Der erste
Winter war ja noch milde, aber dieser Winter ist für ihn die Hölle. Zumindest
schimpft er so: Sauschnee, Blödschnee, Sackrattenschnee ... Obwohl im Sommer,
wenn die Sonne steil auf seinen Südbalkon schlägt, kann er seine vielen
Bestimmungswörter auch schön für die Hitze benutzen: Dreckshitze, Doofhitze, Misthitze
... Und im Frühjahr oder Herbst nutzt er sie dann eben für Wind oder Regen:
Drecksregen, Mistregen und so weiter und so fort. Mein Nachbar schimpft einfach
grundsätzlich gern. Einer der wenigen echten gebürtigen Berliner, die noch
etwas auf Berliner Lebensart und Tradition geben. Die Tochter will sogar
beobachtet haben, dass er manchmal gar nicht raucht, sondern, trotz der
Eiseskälte, nur auf den Balkon geht, um ein bisschen das Wetter zu beschimpfen.
Deshalb ist er aber noch lange kein Stinkepeter. So wie er mit Inbrunst
schimpfen kann, so kann er auch aus vollem Herzen lachen, das muss man schon
fairerweise dazusagen. Zum Beispiel wenn eine orientierungsschwache Taube voll
gegen das leicht vorstehende Mauerstück fliegt und runterkracht. Dann lacht er
ganz laut und ansteckend. Anlässlich des hundertsten Geburtstags des Spieles
«Mensch ärgere dich nicht» habe ich kürzlich gelesen, Schadenfreude sei ein
rein deutsches Wort. In anderen Sprachen gäbe es dieses Wort gar nicht. Was
sagen solche sprachlichen Besonderheiten eigentlich über den Charakter eines
Volkes aus? Obwohl, ich kann es auch kaum glauben. Bitte, wie bedauernswert arm
ist denn ein Volk, das das anmutige Glück der harmlosen, lebensfrohen
Schadenfreude nicht kennt? Außerdem, wer schon einmal mit Holländern ein Spiel
einer deutschen Fußballmannschaft gesehen hat, bei der die deutsche Mannschaft
dann unterlag, der weiß, dass Holländer Schadenfreude sehr wohl und sehr gut
kennen. Aber hallo!!!! Gleiches gilt meines Wissens auch für Engländer. Ein
zeitweise leicht zynischer amerikanischer Freund erklärte mir hierzu, Engländer
oder Amerikaner würden statt Schadenfreude «justice» sagen.
Eskimos
hingegen haben vielleicht wirklich kein Wort für Schadenfreude, dafür aber
dreißig verschiedene Wörter für Schnee. Wer so viel Schnee hat, braucht keine
Schadenfreude mehr. Die vielen verschiedenen Wörter haben sie laut Etymologen,
weil der Schnee für ihre Gesellschaft eine große, quasi metaphysische,
identitätsstiftende Bedeutung besitzt.
Wir haben
nur ein Wort für Schnee, dafür aber rund zweihundert verschiedene
Formulierungen für völlig betrunken sein: hackevoll, sturzbesoffen, die Lampen
ausgeschossen, den Vorhang zugezogen, zugelötet, Strandhaubitze, dicht wie
Eimer, zu wie Karstadt und so weiter und so fort. Das ist natürlich auch
interessant, so hat eben jedes Volk seine eigene sprachkulturelle Identität.
Worst ever
Markus
meint, er würde im falschen Zeitalter leben. Er habe einfach wieder einmal Pech
gehabt. Wie so häufig in seinem Leben. Ein anderes Zeitalter, eine andere
Menschheitsepoche hätte viel besser zu ihm gepasst. Da wäre sein Leben viel
richtiger, viel schöner gewesen. Da wäre er dann auch viel motivierter gewesen.
Das Mittelalter etwa, das würde sich für ihn eigentlich viel besser anfühlen.
Markus denkt das wirklich. Wenn man etwas genauer nachfragt, bemerkt man
allerdings schnell, dass sich Markus im Mittelalter mehr so als Fürst sieht.
Weniger als Leibeigener zum Beispiel. Als Leibeigener würde sich das Mittelalter
für ihn wohl auch nicht so gut anfühlen.
Ich habe
noch nie ernsthaft überlegt, ob ein anderes Zeitalter für mich passender wäre.
Ich weiß nur, würde ich in einem anderen, einem früheren Zeitalter leben, würde
ich als Erstes ein paar Dinge erfinden, auf die ich keinesfalls verzichten
möchte. Nichtkratzende Unterwäsche zum Beispiel, die würde ich, glaube ich, als
Allererstes erfinden. Dann vielleicht auch Espresso, Nutella und Pommes. Hätte
ich diesen Text im Winter geschrieben, wäre meine erste Erfindung vermutlich
die Zentralheizung gewesen, und die BVG, die würde ich natürlich auch erfinden.
Die
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