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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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seines Glückes genießen durfte. Die Hochzeitsreise des Mr. Pickering, zumeist inkognito und voll Hasenhaken, erinnerte an die klassische Verfolgungsjagd im Filmlustspiel, ganz Europa schien mit Fotoapparat und Fernglas hinter den Liebesleuten her zu sein. Auf solche Weise besichtigten die Pickerings binnen der knapp drei Wochen, welche bis zu den eigentlichen Abenteuern dieser Reise verblieben, die Ruinen dreier hethitischer Festungen samt den Funden bei Boǧazköy, wo Fanatiker unter höllischer Sonne die einstige Metropole des hethitischen Reiches aufs Sieb nahmen, in der Hoffnung, wenigstens eine Schrifttafel hervorzusieben. Ungerührt von der entschwundenen Macht und Größe kreisten Adler über Ginstergestrüpp und grob behauenen Basaltquadern. Darauf, in den kaum mehr wahrnehmbaren Konturen, an den Grenzen der Verflüchtigung, erahnte man die Götter des Orients und daneben, in den gleichfalls hauchfeinen Kratzern, ihre Gebote. Evgenia Ivanovna lernte Entdeckerdrang kennen, beglückend und quälend. Allen Anzeichen nach hatte der Engländer in ihr die für einen Gelehrten schönste Verbindung von Lebensgefährtin und tüchtiger Assistentin gefunden … Zwei Wochen darauf übernachtete das junge Paar schon in Urfa, dem antiken Edessa, von dessen Existenz Evgenia Ivanovna bei der Ankunft in der Stadt vernahm.
    Den Gelehrten hatten alte wissenschaftliche Interessen hergeführt. Eine Weile hatte er sich gar mit der Absicht getragen, hier für ein, zwei Dutzend Jahre seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Beim ersten Ausflug vor die Tore der Stadt zeigte er Shenja die längst ausgewählten Stellen, wo er, vorbehaltlich des Einverständnisses der türkischen Regierung, Schlüsselbelege zu suchen gedachte für buchstäblich sämtliche Epochen dieser grandiosen vorderasiatischen Zitadelle und Nekropole vieler Zeitalter und Völker. Hier, in dieser verhältnismäßig kleinen Arena, meinte der Professor, sei jahrtausendelang alles mit der Nase aufeinandergeprallt: junge europäische Zivilisation und zurückweichende Wüste, Orient und Okzident, Hethiter und Hurriter, römischer Adler und persischer Löwe, Erzbischöfe und Häretiker, der mächtige Belisar und die einheimischen laubgegürteten Einsiedler, die ihm schlimmer zusetzten als Mückenschwärme. Von hier habe sich der Apostel Thomas auf seinen Missionszug begeben, und dreihundert Jahre später hätten Ephram der Syrer und die Geistlichkeit hier, vor den Stadttoren, seine sterblichen Überreste in Empfang genommen; für seinen flüchtigen Glaubenszweifel habe der hundertfach zahlen müssen … Unterdessen sei die Stadt von Trajans Strafexpedition bis auf die Grundmauern zerstört, von Hadrian wiedererrichtet worden. Der Präfekt Opellius Macrinus habe hier Caracalla erdolcht und sei selber gefallen vom Schwert eines syrischen Jünglings, der ein noch grausigeres Schicksal hatte. Schließlich habe das weltgeschichtliche Wirken römischer Imperatoren in Kleinasien geendet, als Valerian gefangen wurde und sich der stolze Schapur von seinem Buckel in den Sattel schwang. Doch im Zeitendunkel hätten sie sich schon gewappnet, um Edessa zu vernichten, die Mongolen, die Erdbeben, die Kreuzritter und die Pest …
    »Diese alte Vettel hat jedenfalls genug Erinnerungen, um sich damit ihre schlaflosen Nächte zu vertreiben. Sie hat alle Welt genossen, und alle Welt hat sie genossen«, schloß der Engländer seinen Vortrag. »Kurz und gut, Jenny, morgen wirst du endgültig Mrs. Pickering. Ich möchte meinen, daß unsere Trauung dereinst von einem hiesigen Chronisten eins der freudigsten Ereignisse in der Lokalgeschichte genannt werden wird.«
    Den Tag über besichtigten sie alte Denkmäler. Auf dem Rückweg von den Ruinen Nimruds verweilten sie bei einem abgeruschten Steinbruch, darin sich, Mr. Pickerings Mutmaßungen zufolge, einst die rosigen Fischchen der Göttin Atargatis getummelt hatten. Spätnachmittags ruhten die Brautleute im kühlen Garten ihres freundlichen Hausherrn, eines britischen Missionars. Inmitten des Dschungels lackglänzender Vegetation grummelte ein fließendes Wasser, als trüge es den Schrei von Bergvögeln in sich, und einheimische Heimchen, den Krummsäbel unter der rotgefütterten Pelerine, riefen einander zu. Evgenia Ivanovna war in den Schatten geflüchtet, da die Sonne seit morgens brütete, während Mr. Pickering nach seiner sonderbaren Angewohnheit mitten in der prallen Glut saß, seiner Angebeteten gegenüber.
    »Du bereust also nicht, Jenny, mit mir

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