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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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und in ewiger Trauer – der Mutter. Ihr gelegentliches Beisammensein lief letztlich darauf hinaus, einander geduldig zu betrachten und zwischendurch, zur Atempause, einen Blick ins Kaminfeuer zu werfen. Böse, keineswegs futterneidische Zungen schrieben kaum ganz zu Unrecht Pickerings gelehrte Erfolge wenigstens zur Hälfte seinem Pech zu, da er ja, im Gegensatz zu mit zahlreicher Familie gesegneten Archäologen, die sich in ihren Mußestunden zwangsläufig mit den Enkeln abplagten, den lieben langen Tag, wie ein Ochse, über seinen Tonscherben hocken konnte, die ihm von allenthalben kistenweise angefahren wurden. Kurzum, mit den Jahren buddelte er sich immer tiefer in den Moder fremder Grabstätten hinein, wohin kein Sonnenstrahl drang, kein Kinderlachen, kein Frauenruf. So wenig kannte er an sich diese seine intimste Seite, daß eher Angst vor dem Ungewohnten als die Warnzeichen des Alters seinen lebhaften Wunsch nach einem Erben lähmten. Fast ein Weltberühmtheit, hatte ihn einzig die Befürchtung, eine Sensation für die Zeitungen zu werden, mit seiner späten bitteren Liebe in die vorderasiatischen Provinznester getrieben.
    Seitdem er 1906 bei religiösen Unruhen in Bengalen verwundet worden war, litt er an heftigen neuralgischen Anfällen. Auf der Reise hatte sich Evgenia Ivanovna daran gewöhnt, ihm zur Hand zu gehen: Die Heirat erlegte ihr kaum neue Mühen auf. Sie nannte ihn nunmehr schlicht Doc, seinen wissenschaftlichen Grad nach amerikanischer Art abkürzend. Die kuriosen Ängste der beiden waren alsbald verflogen, die Götter waren dem jungen Paar gewogen. Die Koffer der Pickerings wurden umgepackt nach Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit. Seiner Frau zuliebe setzte er die Rückreise via Konstantinopel fest: Shenja wollte noch einmal in der Hagia-Sophia-Anlage sitzen, wo sie einst am liebsten hatte sterben wollen. Und just am Tage vor Erhalt des englischen Reisepasses, da das Tor sich vor ihr öffnete zur erträumten gesicherten Zukunft, frei von Angst, Hunger oder fremder niedriger Willkür, befiel sie eine rätselhafte Krankheit.
    Je weiter sie nordwärts kamen, um so mehr verblaßten in ihren Augen die malerischen Banalitäten am Straßenrand, und ihr überschwenglicher Jubel wich der Kälte der Verzweiflung und Verlorenheit. Sie fror und starrte mit feuchtgeröteten Augen zum so unerreichbaren nördlichen, grauumflorten Horizont. Die medizinischen Kapazitäten des Landes konnten organisch keine besorgniserregenden Veränderungen entdecken, nichtsdestoweniger wusch ihr das geheimnisvolle Leiden Farbe und Glanz, gleich Wandfresken, vom Gesicht. Mit der Sonnenbräune schwand die Frische der Haut, nach dem Lächeln erloschen die Augen. Mehr noch als dieser körperliche Verfall entsetzte Mr. Pickering das spasmatische Schweigen seiner Frau, in welches er keine Bresche schlagen konnte. Um einer unter russischen Immigranten nicht seltenen Verzweiflungstat vorzubeugen, unternahm Mr. Pickering entgegen seinen Grundsätzen einige notwendige Recherchen.
    In der Innentasche des Damennecessaires fand er einen goldenen Ring, der nicht von ihm stammte. Desgleichen betrübte den derzeit schon in mancherlei eingeweihten Mr. Pickering weniger, daß innen die Koseform eines Männernamens eingeschnitten war – nicht seines, er wußte wessen. Ihn bestürzte anderes: Wieso hatte Evgenia Ivanovna dieses Kleinod über die Pariser Elendszeit hinübergerettet, wo ein Stück Brot über Ehre und Existenz entschied? Am leuchtenden Himmel errungenen Glücks zogen wieder die von Damaskus her bekannten Zweifelswolken auf. Also hatte dieser windige junge Russe von militärischem Stand seine Allüren beibehalten und stieg weiterhin in Mr. Pickerings Haus über die Hintertreppe ein.
    Anderntags überraschte der Professor seine Frau in den Anblick einer zerfledderten Zeitung versunken. Die Zeitung war schleunigst verschwunden, das verweinte Gesicht aber konnte Evgenia Ivanovna vor ihrem Gatten nicht verbergen. Nachts entdeckte er wiederum fast zufällig – hinter der gelösten inneren Klebwand ihres Koffers jenes rätselhafte, in den Kniffen gebrochene Zeitungsblatt. Es war ein offizielles Nachrichtenorgan des Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten, herausgegeben, laut Impressum, in einer südrussischen Steppenstadt. Der Fund deutete darauf hin, daß seine Frau noch mit einem zweiten Gedanken umging, der für die politische Strafjustiz glücklicherweise nicht zureichte in Europa. Immerhin, abgesehen davon, daß es

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