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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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recht verwunderlich war, durch welche Kanäle ein erst jahresaltes sowjetisches Provinzblatt in die Hände Seiner Majestät neuer Untertanin gelangen mochte, stellte sich die nicht weniger angebrachte Frage: Was konnte eine Emigrantin reizen an den leidenschaftlichen bolschewistischen Philippiken gegen den schon seit Herzen prosperierend hinfaulenden Westen, der ihr eine halbwegs komfortable, jedenfalls sichere Zuflucht bot. Gewiß, Mr. Pickering hatte unterderhand vernommen, so manch eingefleischten Vagabunden quäle diese fortdauernde Glückseligkeit … ja, selbst wenn es ihr dieses Durcheinander angetan hätte, an welchem die Russen der zwanziger Jahre ein fragwürdiges Vergnügen fanden, doch was für ein Herz hätte sich am Romantischen einer Zeit begeistern können, für die es Schießscheibe oder Ziegelstein war; was die Zeitenstürme betraf, hatte Mr. Pickering seine eigne Meinung. Was dann mochte sie reizen an diesem Land, das sie Hals über Kopf verlassen hatte, wo keine Menschenseele von ihren Nächsten mehr am Leben war und wo, nach seinen Mutmaßungen, ehe man sich's versah, wieder ein neuer Machno, schieläugig, mit einer Papacha wie ein Rauchfang auf dem Dach, auf Bretterwagen über bereifte hallende Erdklüfte jagen konnte? … Zwar verstand sich Mr. Pickering darauf, tausendjährige Steine zu entziffern, doch die bittere Keilschrift um einen Mädchenmund konnte er nicht lesen. Des Rätsels Lösung war: die hintere Zeitungsseite zeigte eine verschmierte Zinkographie mit dem Marktplatz daheim bei seiner Frau. Daß darauf mittels Subbotniks ein Weltobelisk, ein Leuchtturm der Revolution, sichtbar allen unterdrückten Kontinenten, errichtet werden sollte, bewegte Evgenia Ivanovna allerdings weniger als der dem Engländer unbekannte Umstand, daß sich im Hintergrund des Platzes die Seitenansicht von Mutters Häuschen mit dem Malvengärtchen bot. Übrigens hatten die Pickerings damals schon über die britische Botschaft in Moskau die Nachricht erhalten, daß die alte Dame bald nach Abreise der Tochter verschieden war … Allerhand ungereimte oder affröse Hypothesen mußten verworfen werden, ehe der verzweifelte Ehemann hinter die Wahrheit kam. Jenseits der Berge am Horizont lag der unermeßliche Koloß Rußland. Er sog das russische Herz zu sich durch die Gebirgsmassen des Kaukasus hindurch, ganz zu schweigen davon, daß es bitterste Erinnerungen panzerten. Bei Widerwehr wäre der Sog glattweg stark genug gewesen, dieses zuckende Klümpchen Fleisch aus der Brust herauszureißen.
    An der Bestürzung seiner Frau, beim ersten offenen Gespräch, merkte er, daß seine Diagnose stimmte. »Bitte kein Mitleid, Liebling«, stammelte sie, an ihn gedrückt und lustig die Stirn krausend, um mit hilfloser Geste des Mannes Nachsicht zu erkaufen für ihre dumme, rein russische Misere. »Wenn der Sturm ein Blatt abweht, ist's aus mit ihm, es flattert umher im Freien, fliegt durch die Gegend, steigt vielleicht ungeahnt hoch, und dennoch fault es eher als die andern, die am Baum bleiben.« Die Worte klangen flüssig, ein bißchen angelesen und wie einstudiert.
    »Aber das heißt doch, daß du aller Treuepflicht enthoben bist«, murmelte Pickering unsicher.
    »Wie, wieso?« Sie machte Kneifaugen, ganz Neugier, wie es im Kopf so eines Europäers aussah.
    »Ich meine … gegen den Baum, der dich erbarmungslos … na, fallenließ, abwarf. Zu lieben, was mit Haß vergilt, ist widernatürlich.«
    »Ist dir das eben erst eingefallen, Doc?« Sie lächelte leicht von oben herab.
    »Der Gedanke stammt von Diderot.«
    Evgenia Ivanovna zuckte die Achseln.
    »Dann können wohl große Geister leichter im fremden Boden Wurzeln schlagen als wir, die kleinen.«
    Die Woche darauf bat Mr. Pickering seine Frau wie beiläufig um Rat, ob man einer bei seiner Abreise eingegangenen Einladung Moskauer Freunde folgen solle und zurück über Rußland fahren. Zwei Jahre vorher, auf einem internationalen Kongreß, hatte er den Russen unumwunden seine Anerkennung ausgesprochen für das Wagnis, in die heillosen sozialen, ökonomischen und sittlichen Verhältnisse der Gegenwart gesunden Menschenverstand hineinzutragen. Wenig später, in einer aufsehenerregenden Abhandlung, zählte er Moskau den Fackelträgerstädten zu, welche der Menschheit auf ihren tausendjährigen Märschen voranleuchten. Gewiß, kurz vor der Abreise nach Kleinasien, in einem Presseinterview, maß der Gelehrte Rußland die nicht eben beneidenswerte, doch ehrenhafte Rolle des

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