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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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die christliche Glaubenslehre innerhalb der eignen Grenzen aufrechtzuerhalten. Sie gestatten, ich wiederhole mein Anliegen.« In geduldigster Weise erläuterte er dem Feind die Koordinaten seiner Knobelaufgabe. »Könnten Sie, verehrter Mr. Pickering, mir nicht aus meiner dummen Verlegenheit helfen?«
    Die Ohrläppchen des Engländers verfärbten sich, mechanisch brach er von einer Eibe am Wege rote Beeren, und dann geriet das enzyklopädische Räderwerk seines gelehrten Hirns in Bewegung. Den Irrtum seines Rivalen hatte er im Nu heraus. Aber er wollte erst klären, ob Unkenntnis hinter der Frage steckte oder die vermutete Absicht, vor der Frau an seiner wissenschaftlichen Autorität zu rütteln.
    »Wozu hätte Antiochien nach Chosroes überhaupt Missionare schicken sollen«, begann er das Knäuel zu entwirren. »Derzeit war die Christianisierung Georgiens im Grunde schon beendet. Im sechsten Jahrhundert hat Procopius von Cäsarea die Georgier fanatische Christen genannt. Mithin stammt dieses Denkmal wenigstens aus dem fünften Jahrhundert. Bei Ihnen steht aus dem siebten? Billige Buchpreise erhöhen zweifellos die Nachfrage unter anspruchsloserem Publikum, aber … ich empfehle, lieber britische Nachschlagewerke zu kaufen. Bei uns knausert man nicht, was Autorenhonorare, Autorkorrekturen, wenn Sie wollen, das Papier angeht. Ja, und betreffs Ihrer Kenntnisse – haben sie gleichfalls ein Vademekum zur Hand oder kommen Sie beruflich öfter in die Gegend?«
    Stratonow bleckte die weißen, etwas lädierten Zähne in unverhohlenem Spott.
    »Kachetien gehört nicht zu den Touristenrouten, da entsprechende Unterkünfte fehlen, wovon Sie sich vergangene Nacht überzeugen konnten. Wollten Sie das hören, Mr. Pickering?«
    »Nein, Herr Stratonow, mich interessiert eher, ob Sie Ihre geschichtlichen Studien aus Liebhaberei betreiben oder ob Ihre Firma Spezialkenntnisse für diesen Posten verlangt, den Sie … in so sonderbarer, unfaßlicher Weise ausüben?«
    Das Gespräch war von selbst ins Französische gewechselt, wie um Waffengleichheit herzustellen, und plötzlich brach wieder das Russische hervor. »Ich übe meinen Dienst aus«, ereiferte sich Stratonow, »und Sie zahlen dafür Devisen, die bei uns zulande sehr gefragt sind. Wir sind noch arm. Bekanntlich haben es unsre Alliierten unterlassen, die Früchte des Sieges mit uns zu teilen, der mit einem Meer von russischem Blut erkauft wurde. Mit meinem auch. Für den Aufbau des neuen Rußlands, sehen Sie, brauchen wir eine Menge Geld … etwa für ein Paar neue Stiefel, Mr. Pickering; unter Ihrem Blick werden meine gleich völlig auseinanderfallen!« Schon hätte ihn keine Macht auf Erden mehr zügeln können. »Als die Alliierten Rußland im Stich ließen, mußte ich für gewisse Zeit ins Ausland … dann kehrte ich zurück, um meinem Land nach Kräften zu dienen, ja, auch um Sümpfe trockenzulegen. Deswegen habe ich meiner Seele Gewalt angetan, meine Ideale verleugnet und sogar eine Gemeinheit begangen, die Erinnerung daran verbrennt mich noch heute.«
    Sein Monolog klang so einfältig, als erzählte jemand leichtfertig »How do you do?« gefragt, sämtliche Vorgänge der letzen Woche her. Die fleckige Wangenröte, die hektische Redeweise und mancherlei andere Anzeichen sprachen dafür, daß Stratonow sich in erbärmlicher Verfassung befand. Nach allem zu schließen, hätte er es selbst auf einen kleinen Verstoß gegen seine Dienstvorschriften ankommen lassen, um sich von seiner Schuld reinzuwaschen. Mr. Pickering warf seiner Frau einen gequälten Blick zu, ihretwegen litt er seit morgens schier russische Seelenqualen. Vorm Taschenspiegel schminkte die sich die Lippen, ihre Hand flatterte, ein Sonnenkringel hüpfte auf ihrer Wange.
    »Ich glaube«, bemerkte sie, ohne den Stift abzusetzen, »Herr Stratonow richtet seine unpassenden Bekenntnisse an einen Dritten, der gar nicht hier ist.«
    Der Lippenstift war gebröckelt, sie warf die leere Goldhülse unter einen Strauch.
     
    Es dauerte eine Weile, bis der Guide seine Geschäfte wieder aufnahm. Alle waren sich klar, daß die Dinge auf eine dramatische Schlußapotheose zusteuerten. Für Augenblicke schwiegen die drei, als zollten sie der romantischen Naturschönheit ihren Tribut. So waren sie unversehens wieder da angelangt, wo sie ihren Rundgang angefangen hatten. Es ließ sich kaum ein verschwiegeneres Plätzchen denken für eine geheimnisumwitterte Weihestätte. Und in der Tat lag da am Rande des Zinandali-Plateaus, im

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