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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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erzähle dir diese lustige Geschichte beim Frühstück. Übrigens ereignete sie sich nicht weit von hier, hundertdreißig Kilometer südlich auf demselben Meridian, aber … jetzt zieh dich an! Du hast einen enorm gefräßigen Mann, meine Liebe.«
    In diesem Augenblick pochte Stratonow abermals an die Tür. Die Zeit des Frühstücks war zwar hoffnungslos verpaßt, doch in Kachetien wurde nach Bauernbrauch früh gegessen. Keine halbe Stunde später strebten alle drei durch eine Flucht unbewohnter Gemächer zum Speisesaal. Die Strapazen der Nacht äußerten sich, das Gespräch wollte nicht in Fluß kommen, obwohl an Weinen kein Mangel und ein Sowchosdirektor zugegen war, der als Tischmeister einen vorzüglichen Ruf genoß. Die Stimmung hob sich erst zum Schluß ein wenig, als der Engländer den Zinandalier Tafelfreuden unverhohlene Bewunderung zollte: Ein exzellenter unbekannter Kochkünstler wirke und schüfe in der Stille des Alasan-Tals für wenige. Ob dieses Kennerlobs geschmeichelt, sagte der Direktor, der Koch heiße Koté, und war schon im Begriff, die Biographie dieses Künstlers aufzublättern, da wurde er dienstlich hinausgerufen: die Weinlese in Kachetien war in vollem Gange. Während der Viertelstunde, die er im Kontor war, teilte Stratonow den Reisenden unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, auch die Tifliser Prominenz komme in dieses kulinarische Eden gereist, um hier ihren Leib für die Entscheidungsschlachten der Menschheit zu stärken. Es war, als knirsche dabei Sand zwischen seinen Zähnen. Daraufhin kam es zwischen ihm und Mr. Pickering zu jener peinlichen Kontroverse, die wohl nur mit Stratonows Versuch zu erklären war, sein Ansehen bei der Frau um jeden Preis zu heben.
    Aus den Augenwinkeln, ohne ihm den Blick zuzuwenden, musterte Evgenia Ivanovna ihr aufgebrachtes Visavis. Nach dem gespenstischen Wahnwitz der Nacht wirkte der lebendige Stratonow fast wie ein Toter. Ihr schräg gegenüber am Tisch saß ein unleidlicher, unausgeschlafener und vor allem keineswegs mehr junger Mann. Niemand hatte ihn also erschießen wollen in jener geträumten Schlucht, eher hatte ihn ein Kinnhaken getroffen, weswegen wohl auch sein Unterkiefer so nach links hing. Zum Ausgleich für etwas Verlorenes hatte sich der Herr eine Künstlermähne wachsen lassen, die ihm übrigens wohl zu Gesicht gestanden hätte, wäre sie nur öfters in warmem Seifenwasser gewaschen worden. Die zerschundenen Hände, die zerfransten Manschetten, von Sicherheitsnadeln statt Knöpfen gehalten, die nervöse, auf den ersten Blick erkennbare Abgespanntheit, all das redete eine deutliche Sprache, wie es Stratonow am erreichten Ufer erging. Er lebte öde, einsam, hoffnungslos, ohne liebende Frau, in der Gereiztheit ewiger Angst. Keine dieser bitteren Wahrnehmungen verschaffte Evgenia Ivanovna aber die gewünschte Genugtuung.
     
    Während Stratonow eine Traube Wein kahl zupfte, plauderte er vom alten Zinandali-Besitz und von den vormaligen Eigentümern des jetzigen Weinsowchos, den berühmten Tschawtschawadses, und erzählte die Geschichte, wie Schamyls Muriden vor genau siebzig Jahren die Bergklüfte herabfluteten und davonstoben im Qualm einer Feuersbrunst, zwei grusinische Prinzessinnen quer über den Sattel mit sich nehmend. Evgenia Ivanovna, die gleichwohl nur schwieg, merkte deutlich, wie er mit geübter Redseligkeit und mit Kenntnisreichtum die Zeit zu überbrücken suchte, um Fragen und Erklärungen aus dem Wege zu gehen. Sie hörten sodann, daß das Besitztum Ende des vorigen Jahrhunderts von dem ruinierten Schloßherrn an die russische Krone übergegangen sei und daß in dem Bett, in welchem sie die Nacht zubrachten, Alexander II. öfters geschlafen hatte.
    Auf diese Kunde hin wagte Mr. Pickering den leichtfertigen Witz, Alexander sei ja seines Wissens der größte russische Zar gewesen, was seinen Wuchs betraf. Der Guide heftete seinen Blick auf den Teller und schwieg für Augenblicke.
    »Zu seinen Lebzeiten erlaubten sich Ausländer nicht mal zu Hause respektlose Äußerungen über ihn«, murmelte er wie beiläufig, als ob er eine Auskunft erteilte.
    So interessant fand Evgenia Ivanovna die wachsende Nervosität dieses aus dem Gleise geworfenen Mannes, daß sie gar nicht daran erinnerte, wie derselbe Stratonow, damals Student, ihr kurz nach der Februarrevolution, wutschnaubend gegen alle Selbstherrscher, allerhand Histörchen erzählte von nämlichem Alexander: wie der sich mit seinem Gärtner die Nase begoß, wie er eine Buddel

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