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Evgenia Ivanovna

Evgenia Ivanovna

Titel: Evgenia Ivanovna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonid Leonow
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Widerschein des Feuers auf der Hammelhaut, die mit der Innenseite nach außen gerollt dalag, und dieser Umstand führte Evgenia Ivanovna erneut vor Augen, wie abenteuerlich diese Nacht war. Als man das durchgebratene Fleisch von den Spießen zerrte, hockten alle mit untergeschlagenen Beinen auf dem Teppich um die Tischdecke nieder. Das Wort wurde dem Wein erteilt. Man stieß reichlich an auf Frauen, Kinder und Freude, die man seinen Liebsten spenden wollte, auch auf England, auf daß dort die rechtschaffenen Hirten und Weinbauern nicht ausstürben, auf alles was da leibte und lebte und in erster Linie auf die Gäste, die an ihren Sohlen den Staub kachetischer Erde davontrügen. Und nach jedem Toast trank Stratonow verstohlen noch auf etwas, was nur er allein kannte. Der Trinksprüche müde, holte der eine Telianer blinde Musikanten, Mestwire , aus der Nacht herbei.
    Sechs mit klaffenden Augenhöhlen kamen da einer nach dem andern aus dem Dunkel geschritten; sie wirkten wie auf einen Bratspieß aufgereiht, ein jeder hielt die Schulter des Vordermannes gefaßt, der erste ging mit lustig gerecktem Kopf und ertastete mit einem Stecken den Weg. Im Unglück ähnlich geworden wie Brüder, unterschieden sie sich nur von Alters wegen, ja, und einer trug einen Dudelsack, ein anderer ein Ding aus vier silberverfestigten Rohrstäben, ein dritter eine Art Oboe, eine Sasandari ; die Hände der andern verloren sich im Dunkeln. Plötzlich strauchelte der vorderste über einen leeren Eimer, es war, als ginge eine Welle allmählich auslaufend durch die Reihe. Der vorderste wäre fast ins Feuer geschlagen, während der hinterste von der möglichen Katastrophe gar nichts ahnte. Man reichte den Sängern je ein Stück Fleisch zum Weißbrot und kredenzte Wein, worauf sie ihre Kunst hören lassen sollten. Eine Weile pumpte der Regent eifrig Luft in seinen Dudelsack, dann fielen die geblähten Backen ein, und der Ledersack mit Menschenstimme sang los unter seiner Achsel. Musik und Worte wechselten, das Lied war lang.
    An der Grenze von Feuerschein und Nacht, kaum wahrzunehmen, lauschten Bauern und Frauen mit Kindern auf dem Arm dem Konzert der Blinden. In ihren rauhen Gesichtern las man den schlichten Sinn des Liedes. Es mochte davon sprechen, wie schön alles Leben auf Erden wäre, könnte man nur haben, was nicht ist. Da die Gäste den Text nicht kannten, machten sie sich auf die Melodie einen eigenen Reim. Evgenia Ivanovna streifte Stratonow mit einem Blick. Angetrunken hockte der da, mit den Schuhsohlen zum Feuer, neben dem Teppich, wie es sich so ergeben hatte, und starrte in die flüchtigen blauen Flammenzungen. Zu gern hätte die Frau da gewußt, was er dachte; andrerseits hätte sie es entwürdigend gefunden, seine Entschuldigungsgründe für sein Verhalten in Konstantinopel anzuhören.
    Sie stellte den unausgetrunkenen Madshari , den jungen Wein, weit von sich und lehnte sich reckend den Kopf an die Schulter ihres Mannes. »Ich möchte gern wissen, worüber mein hochgeehrter Esquire sinniert. Darf ich seine geheimen Gedanken erfahren?«
    Der antwortete halblaut, um die Blinden nicht zu stören.
    »Erinnerst du dich, ich habe dir in Paris die ›Blinden‹ von Breughel dem Älteren gezeigt, die Kopie? Sechs ebensolche wie diese tappen daher im Gänsemarsch, der vordere stürzt in einen Graben, und den andern teilt sich das Mißgeschick auf unterschiedliche Weise mit. Eben hat sich vor deinen Augen, Jenny, das gleiche abgespielt, der vom Maler beobachtete Mechanismus wird in seiner Konsequenz fortwirken, solange die physischen Koordinaten des Weltbaus unveränderlich sind …« Alsdann ließ sich der Professor des längeren über den Sinn der Kunst aus, der, wie er meinte, keineswegs darin bestehe, dem Dasein das Spiegelchen begrenzter Vollkommenheit vorzuhalten, es nachzuahmen, das Modell also ärmer zu machen, es zu kopieren, denn wer könnte die Sonne kopieren, außer ihrem Schöpfer? Ziel der Kunst sei es, meinte der Engländer, ein Phänomen bis in seine Muskulatur hin zu erforschen, die innere Logik zu erfassen, sein Werden und Sein auf die knappste Formel zu bringen und mithin seine Uridee zu enthüllen.
    »Künstler sollten Abstraktion nicht scheuen: Der Stoff, aus dem ein Ereignis gemacht ist, trägt unvermeidlich die Zeichen seiner Zeit! Zu solchen Dingen ist der Mensch durchaus imstande: auch das Universum war ja zunächst nur eine Idee, ein erster Strich auf einer Skizze, und wäre somit auf einem Stück Papier von

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