Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
eine greifbare Form angenommen. Wenn es tatsächlich einer oder mehrere Vampire waren, die die Menschen entführten und aussaugten, gab es nur einen Weg, dass herauszufinden. Jemand musste mit ihrem Anführer sprechen– denn genau wie bei den Menschen, gab es auch bei den Vampiren eine strenge Hierarchie, wenngleich die vampirische Rangfolge eher mafiaähnliche Strukturen aufwies.
Da es Keirs Schicksal war, für die nächsten sechzig Stunden von der Bildfläche zu verschwinden, war der Zeitpunkt günstig, ihn in ihre Pläne einzuweihen.„Keir, ich habe nachgedacht“, begann sie und versuchte danach so beiläufig wie möglich, ihm ihre Idee zu vermitteln.
„Du willst was tun?“, bellte Keir ungläubig. „Du willst zu Gabriel gehen und ihn um Unterstützung bitten?“
Evianna hatte geahnt, dass Keir von dem Vorschlag nicht begeistert sein würde. Trotzdem hielt sie seine Reaktion für überzogen. „Warum denn nicht? Denk doch mal nach. Er kennt seine Leute wahrscheinlich besser als irgendjemand sonst. Und auf die herkömmliche Tour kommen wir mit unseren Ermittlungen keinen Schritt weiter.“ „Evianna, das wirst du nicht tun!“, erklärte Keir noch immer völlig außer sich. „Ach, und warum nicht?“ Evianna hatte die ehemals Psychiatrische Klinik, die alle nur den Zwinger nannten, erreicht. Nachdem Keir seinen Ausweis gezeigt hatte und der Wagen gescannt worden war, schob sich eine riesige Stahltür wie das Maul eines Hais auseinander und ließ den Audi passieren.
„Weil es reiner Selbstmord ist, darum!“ Keir begann zu schwitzen.
Die Sonne sank tiefer und tiefer und war nun schon beinahe hinter dem Horizont verschwunden.
„Versprich mir, dass du nicht dort hingehst. Bitte.“
Evianna sah stur aus der Frontscheibe. Das würde sie sicher nicht tun, denn nach wie vor war sie von ihrer Idee überzeugt.
„Schick Mehdi und Reuben dorthin. Sie arbeiten auch an dem Fall und haben nichts zu befürchten, sie sind selbst Vampire, aber versprich mir, nicht selbst zu gehen.“ Keir ahnte, dass all sein Bitten auf taube Ohren stieß. Er verfluchte sich selbst und das was er war, denn es verdammte ihn für die nächsten sechzig Stunden zur Untätigkeit. Sechzig Stunden, die er nicht in Eviannas Nähe verbringen und sie beschützen konnte. Das brachte ihn beinahe um den Verstand.
Keirs Körper wurde von einem starken Krampfanfall geschüttelt.
Wie weit war der Sonnenuntergang wohl schon vorangeschritten?, fragte sich Evianna. Durch die hohen Mauern, die den großen Innenhof umgaben, in dem der Audi stand, war das nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Da die Wachen, die die vollmondbeeinträchtigten Mischwesen jeden Monat in Empfang nahmen, bereits ihre Waffen auf Keir richteten, wurde es wohl höchste Zeit für ihn auszusteigen. Keir krampfte schon wieder, wobei sein Kopf kräftig von innen gegen die Beifahrerscheibe knallte. Weißer Schaum trat aus seinem Mundwinkel.
„Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass der Besuch bei Gabriel gefährlicher für mich ist, als neben einem Typen im Auto zu sitzen, der sich gerade in einen Werwolf verwandelt.“ Gespannt sah Evianna zu, wie es Keir schüttelte. So eine Verwandlung sah höllisch schmerzhaft aus.
„Evianna, bitte. Tu‘ nichts Unvernünftiges.“
Evianna lächelte bedauernd. Dieser Rat kam Jahre zu spät.
Ein kräftiger Wachmann trat mit gezogener Waffe an die Beifahrertür des Audis heran, während die anderen schussbereit zurückblieben. Mit einem schnellen Ruck riss er Tür auf. „Hallo Keir. Mal wieder der Letzte?“, fragte er lächelnd. Dann drückte er ab. Der Betäubungspfeil traf Keir mitten in die Brust. Der Krampfanfall erstarb. „Jetzt aber schnell“, rief der Wachmann seinen Kollegen zu, die daraufhin auf den Audi zustürmten und Keir vom Sitz hievten.
„Tja, mein Lieber“, sagte Evianna und klopfte ihm zum Abschied auf den Schenkel, „ich hätte dir gern’ noch eine Weile zugesehen, aber ich fürchte ich habe eine Verabredung mit einem Vampir.“
Der Wachmann sah durch die geöffnete Beifahrertür in den Wagen.„Das war verdammt knapp.Alles in Ordnung bei ihnen?“, fragte er besorgt.
„Ich bin okay, danke.“
„Das nächste Mal darf’s gern’ ein halbes Stündchen eher sein“, sagte der Wachmann.
„Ich werde mir Mühe geben, versprochen.“
Er tippte an seine Mütze.„Also dann: wir sehen uns in sechzig Stunden.“ Evianna verabschiedete sich und steuerte den Audi durch die Stahltür aus dem Innenhof.
Auf dem Weg in die Stadt piepste ihr
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