Evies Garten (German Edition)
gehe, und der ist in Michigan, wo meine Mom beerdigt wurde.«
Der Gesichtsausdruck des Jungen veränderte sich. »Deine Mom ist gestorben?«
»Ja, an Krebs«, sagte Evie, bevor Alex sie fragen konnte.
»Daran bin ich auch gestorben.« Alex sprang vom Grabstein herunter. »Hey«, sagte er. »Hör mal, hier ist nichts, wovor du dich fürchten musst.« Er trat über die unsichtbare Grenze, die den Anfang des Friedhofs markierte. »Von der Stelle, an der du stehst, ist es nur noch ein Schritt. Was für einen Unterschied kann ein Schritt schon ausmachen?«
Evie sah auf den Boden. Es stimmte zwar, dass sie mit einem Schritt den Friedhof betreten würde, doch ihre Füße waren schwer wie Blei.
»Wir könnten alles Mögliche spielen«, schlug Alex vor. »Fußball und Fangen und Hürdenlaufen, wie bei den Wettspielen an der Highschool. Ich bin gut in Wettkämpfen …«
Evie schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Mein Vater wartet auf mich.«
Alex wirkte enttäuscht. »Warte!«, bat er. »Du bist der einzige Mensch, der mich sehen kann – deswegen musst du hierbleiben.« Er streckte den Arm aus, um sie auf den Friedhof zu ziehen. Seine Hand war eiskalt. Hastig zog Evie ihre Hand weg.
»Nein«, entgegnete sie in ungewollt scharfem Ton. »Es ist zu kalt, um den ganzen Tag hier draußen zu bleiben.«
Alex runzelte die Stirn. »Du glaubst mir nicht, stimmt’s?«
Evie dachte daran, wie lebendig sich seine Hand angefühlt hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte sie, doch Alex hatte sich schon abgewandt.
»Ist auch egal«, murmelte er.
Evie sah ihm nach, wie er über den Friedhof davonging. Sie wunderte sich, wie vernünftig sie oft war, seit Mom nicht mehr am Leben war.
Früher hätte sie ihm jedes Wort geglaubt.
Geister
Geister haben keine Hände aus Fleisch und Blut.
Das war eine Tatsache. Und Tatsachen lassen sich nicht verbiegen. Würde sie Vater von Alex erzählen, würde er ihr genau das sagen. Vater würde aufmerksam zuhören und dann eine Menge Fragen stellen, wie zum Beispiel, wie kalt die Hand genau gewesen war, und ob der Junge einen Grund hatte, sie anzuschwindeln. Vielleicht ist der Junge sehr krank , würde Vater sagen. Wahrscheinlich stelle er sich deshalb vor, dass er bald sterben müsse. »In jeder Geschichte steckt ein Körnchen Wahrheit« , hatte er ihr mal gesagt.
Doch sie dachte auch daran, was Mom früher immer gesagt hatte : »Manchmal ist die Geschichte wahr.«
Was war nun richtig?
Evie stapfte ums Haus herum in den Apfelgarten. Nun, da sie Alex erzählt hatte, dass ihr Vater auf sie wartete, musste sie zu ihm gehen. Sie schlang die Arme fest um sich selbst, als der eisige Wind in ihre Wangen stach. Ihre Ohren waren vor Kälte ganz rot und ihre Lippen waren rau. Es war, als wäre die ganze Wärme des Spätherbstes durch ein offenes Fenster entwichen, das niemand sah.
Sie fand ihren Vater dort, wo sie ihn vermutet hatte. Er stand vor einem Baum, hielt sein Taschenmesser und einen kleinen Zweig in den Händen und runzelte besorgt die Stirn. So hatte Evie ihren Vater schon tausendmal erlebt, und dieser vertraute Anblick füllte ihr Inneres mit einer Wärme, der sogar die Kälte in Beaumont nichts anhaben konnte.
Sie wartete, dass er sie bemerkte, doch es dauerte lange, bis er endlich aufblickte.
»Hallo, Sprössling«, begrüßte er sie und riss endlich den Blick vom Zweig los. »Du hast es ja doch nach draußen geschafft.«
Evie zuckte mit den Schultern, als hätte es nichts zu bedeuten.
»Was ist mit den Bäumen los?«, fragte sie.
Vater runzelte die Stirn. »Sie faulen. Auch wenn Pflanzenfäule normalerweise ganz anders aussieht.« Er zeigte Evie den Zweig. »Außen sind die Äste schwarz und knorrig; sie wirken wie verbrannt. Aber innen sind sie hellgrün, als würden sie noch leben.« Er hielt inne. »Wenn das hier wirklich Fäulnis ist, dann ist es bei Weitem der schlimmste Fall, der mir je unter die Augen gekommen ist.«
»Liegt es an der Kälte?«, wollte Evie wissen.
Vater schüttelte wieder den Kopf. »Nee«, sagte er. »Auch wenn der Boden fast festgefroren ist und das, obwohl wir erst Oktober haben. Es muss an etwas anderem liegen. Ich bin jeden Tag hier draußen und habe noch kein einziges Lebewesen gesehen. Es ist, als wäre …«
Evie wusste, was er sagen wollte. Ihr Körper verkrampfte sich. Es war, als würde wirklich ein Fluch auf dem Land liegen. Irgendetwas hielt die Tiere und Pflanzen davon ab, zu wachsen und zu gedeihen –
Weitere Kostenlose Bücher