Evies Garten (German Edition)
wie eine eiskalte Hand, die über allem lag.
Vater blieb stehen. »Wolltest du irgendwas?«
Evie war klar, dass sie lieber nicht fragen sollte, doch sie konnte nicht anders. »Glaubst du an Geister?«
Vater verzog verächtlich das Gesicht. »Das weißt du doch selbst am besten«, sagte er. »Wenn es Geister gäbe, wären sie überall, auf der ganzen Welt. Es gibt aber keinen einzigen Beweis für ihre Existenz. Soll ich dir sagen, was Geister sind? Wunschdenken. Die Leute wollen daran glauben, und deswegen reden sie sich ein, dass sie Geister sehen.« Er machte eine Pause und sah sie mit scharfem Blick an. »Du fürchtest dich doch nicht etwa vor dem Friedhof, oder?«
»Nein«, murmelte Evie.
»Warum hast du dann gefragt?«
Evie zuckte mit den Schultern, und Vater kniff die Augen zusammen, doch er fragte nicht weiter.
So schnell hätte Mom nie aufgegeben. »Aaah! Ich lass dich erst in Ruhe, wenn du mir alles gesagt hast, Liebling!«
Vater wechselte nur das Thema. »Ich will in die Stadt fahren. Ich muss zusehen, dass ich im Winter ein paar Nebenjobs machen kann, um etwas dazuzuverdienen. Vielleicht schaue ich dann noch bei Maggie vorbei. Ich will herausfinden, wer den Obstgarten vor Rodney hatte und wann die letzte Ernte war, die Gewinn eingebracht hat. Willst du mitkommen?«
Evie schüttelte den Kopf.
Es gab nur einen Ort, an dem sie sein wollte, und der lag nicht in Beaumont. Eigentlich gab es ihn gar nicht mehr. Jetzt, da sie mit Vater geredet hatte, wusste sie Bescheid.
Ihr Zuhause war nur noch ein Geist.
Geheimnisse
Irgendwann am Nachmittag stand Evie in ihrem Zimmer und starrte auf die Kisten, die sich auf ihrem Bett türmten. Eigentlich sollte sie alles auspacken, aber bis jetzt hatte sie nur ein paar von ihren und Moms Lieblingsbüchern herausgesucht. Ganz oben auf dem Stapel lag Peter Pan und ließ Evie an Alex denken. Sie wünschte sich, er würde durchs Fenster in ihr Zimmer fliegen und sie mit ins Nimmerland nehmen.
Dann presste sie die Lippen fest aufeinander. Sie war schon zu alt für Märchen und Alex war nicht Peter Pan. Er war nur ein nerviger Junge, der ohne guten Grund Lügengeschichten erzählte. Sie zwang sich, sich den Kisten zuzuwenden.
Auspacken – das war real. Die Kisten für die Küche, das Wohnzimmer und das Bad hatte sie schon geschafft, aber ihr Zimmer war immer noch voller Sachen, die auf ein Zuhause warteten.
Evie holte das Foto heraus, auf dem sie und Mom die gleiche Halloween-Verkleidung anhatten. Es war ihr Lieblingsfoto und sie überlegte, wo sie es hinhängen könnte. Ob es neben dem Gemälde mit dem Mädchen im Garten komisch wirkte? Und wo sollte sie die winzige Puppenteekanne hinstellen, die Mom für sie gemacht hatte, als sie fünf war? Oder die Staffelei, die sie letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte? Oder die Keksdose, die Großmutter zum Abschied für Evie mit selbst gemachten Erdnussbutterplätzchen gefüllt hatte.
Sie überlegte, in einem der Regale Platz für die Bücher zu machen, doch wo sollte sie dann die verstaubten alten Bücher hintun, die schon darin standen? Schließlich gab sie es auf und setzte sich neben eine der Kisten aufs Bett. Sie holte die Strickjacke heraus, die zusammengefaltet ganz unten lag.
Sie strömte immer noch Moms Jasminparfüm aus.
Evie zog die Jacke an und atmete den Geruch tief ein.
Ob Alex’ Eltern ihn wohl genauso vermissten, wie sie ihre Mutter vermisste? Vielleicht sollte sie zu ihm nach Hause gehen und seinen Eltern sagen, dass sie ihn gesehen hatte.
Sie runzelte die Stirn. Er ist nicht tot , ermahnte sie sich. Ich hab doch seine Hand gespürt …
Allerdings hatte er tot ausgesehen. Er war fast so bleich wie ihre Mutter gewesen war, als sie starb. Als Mom gestorben war, hatte Evie ihre Hand genommen und fest an die Wange gedrückt, bis Vater sie gedrängt hatte loszulassen.
Evie schluckte schwer.
Sie wollte sich nicht daran erinnern, aber jetzt wurde sie von der Erinnerung wie von einer Welle überrollt. Sie spürte noch immer die kalte Haut ihrer Mutter, aber vielleicht war ein Teil von ihr noch da gewesen, ohne dass Evie es gewusst hatte.
»Mom?«, flüsterte sie, aber es kam keine Antwort.
Natürlich kam keine Antwort.
Evie stand auf und starrte aus dem Fenster ihres Zimmers. Sie drückte die Stirn an die kalte Glasscheibe. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Sonne schon untergegangen und Vater immer noch nicht zurück war. Sie seufzte und ging die Treppe hinunter, um die Lichter auf der Veranda
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