Evies Garten (German Edition)
es nur ein Luftzug vom Fenster.
»Mom?«, flüsterte sie.
Wieder wartete sie mit angehaltenem Atem und sah sich nach einem Zeichen um, doch nichts geschah. Sie ließ die Schultern hängen und warf das Kästchen aufs Bett.
Es war nur ein altes Saatkorn, mehr nicht.
Evie zog sich an und ging über den Flur in eines der leeren Zimmer, um auf den Friedhof zu sehen. Sie wollte eigentlich gar nicht nach Alex Ausschau halten, doch sie entdeckte ihn trotzdem. Er balancierte mit einem Fuß auf einem schmalen Grabstein. Er hatte die Arme weit ausgebreitet und schwankte, richtete sich auf, fing wieder an zu schwanken und verlor das Gleichgewicht. Er fiel hart auf den Rücken, und Evie wartete darauf, dass er aufstand, doch als er liegen blieb, stürzte sie die Treppe hinunter. Sie rannte aus dem Haus und hinüber zum Friedhof, wo Alex noch immer auf der harten, kalten Erde lag.
»Hast du dir wehgetan?« Sie kniete sich hin und beugte sich über ihn. Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesicht war so bleich wie immer. Er rührte keinen Muskel.
»Oh nein «, murmelte Evie und streckte die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren.
In diesem Moment setzte sich Alex auf, und Evie fiel vor Schreck hintenüber. Er grinste frech. »Wenn man schon tot ist, kann man sich nicht mehr wehtun, du dumme Nuss«, erklärte er.
Vor Staunen quollen Evie die Augen über. »Warum bist du dann liegen geblieben?«, wollte sie wissen. »Ich dachte, du seist …«
»Tot?«
Sie knuffte ihn in den Arm. »Ich geh wieder ins Haus«, sagte sie und stand auf. Sie schlang die Arme fest um den Oberkörper, weil sie in ihrem dünnen Hemd fror, doch Alex stand auch auf und baute sich vor ihr auf.
»Warte mal!«, bat er. »Sieh doch! Du bist ja auf dem Friedhof.«
Evie hielt inne und blickte sich um. Sie stand tatsächlich auf dem Friedhof.
»Und guck mal hier«, fügte Alex hinzu und zeigte auf den Grabstein, auf dem er balanciert hatte. »Das hier ist meiner!«
Und wirklich stand auf dem Grabstein: UNSER GELIEBTES KIND, ALEX CORDEZ, 2001–2011.
Evie stockte der Atem. Das Sterbebildchen steckte immer noch in ihrer Jeanstasche, und sie konnte sich nicht davon abhalten, die Karte herauszuholen und anzusehen.
Alex Cordez.
»Was ist das?«, fragte Alex und streckte die Hand aus. Er bekam es zu fassen und rannte um seinen Grabstein herum. Dann drehte er eine Pirouette, bevor er schließlich stehen blieb, um seine Beute näher zu untersuchen.
Schlagartig wurde seine Miene ernst. »Das ist ja mein Sterbebild«, flüsterte er. »Wo hast du das denn her?«
»Maggie hat es mir gegeben«, sagte Evie und konnte nichts dagegen tun, dass ihr die Röte über die Wangen kroch.
Ein Schatten legte sich auf Alex’ Gesicht. »Ich wünschte …«, murmelte er. »Ich wünschte, du würdest mir glauben.«
Eine ganze Weile lang schwieg Evie, doch schließlich nickte sie. »Das würde ich auch gerne«, gab sie zu. »Bevor meine Mutter gestorben ist, hätte ich dir auch geglaubt. Es ist bloß … sie hat mir immer irgendwelche Geschichten erzählt, und keine ist wahr geworden.«
»Was für Geschichten?«
Evie zuckte mit den Schultern. »Geschichten über verzauberte Orte und unglaubliche Sachen, die Leuten passieren, wenn sie es am wenigsten erwarten. Einmal hat sie mir erzählt, dass es wirklich Elfen gibt und dass ich, wenn ich mich genug anstrenge, eines Tages eine Elfe zu Gesicht bekomme. Und du glaubst nicht, wie sehr ich mich angestrengt habe.«
»Ich glaube an Elfen«, sagte Alex.
»Das solltest du aber nicht, weil es Elfen gar nicht gibt. Ebenso wenig wie Kobolde und Feen und Trolle und … Geister.«
Alex beugte sich über seinen Grabstein und ließ die Arme hängen. »Vielleicht solltest du nicht mit den Augen sehen«, schlug er vor. »Das hat meine Großmutter immer gesagt. Sie hat gesagt: ›Schau lieber mit den Ohren oder der Nase.‹«
Evie fröstelte in der Kälte. »Vielleicht solltest du lieber versuchen, mit deinem Gehirn zu denken. Wenn du das tätest, dann würdest du nicht von Grabsteinen herunterfallen. Die, die glänzen, sind nämlich glatt und rutschig.«
Alex straffte die Schultern und streckte die Brust heraus. »Ach, wirklich?« Er zog sich auf seinen neuen Grabstein und kniete sich oben auf die Kante.
»Alex, komm da runter«, schimpfte Evie, doch stattdessen streckte er nur langsam die Knie. »Du wirst wieder herunterfallen, und diesmal helfe ich dir nicht.«
Vorsichtig richtete er sich auf.
»Ich glaube nicht, dass du
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