Evies Garten (German Edition)
nicht geweint«, sagte er und nickte in Richtung der Karte. »Heb sie dir für nach dem Frühstück auf, dann hast du länger was davon.« Er erhob sich ungeschickt und mit angespannten Schultern. »Ich komme später nach dir sehen. Ich will noch mit den Bäumen weiterkommen und dann …«
Er stockte und sah Evie prüfend an. »Ach, Evie«, flüsterte er. »So wird es sich nicht ewig anfühlen. Warte, bis der Frühling kommt und alles wieder zum Leben erwacht. Deswegen mache ich doch das Ganze hier. Das weißt du doch, oder?«
Evie starrte auf den Umschlag, auf dem in Moms geschwungener Handschrift ihr Name stand. »Nicht alles wird wieder zum Leben erwachen«, wandte sie ein, und Vater runzelte die Stirn.
»Nein«, gab er zu, »nicht alles. Aber vielleicht doch etwas, das sich schon lange nicht mehr lebendig angefühlt hat. Vielleicht können wir wenigstens darauf hoffen.«
Das kostbarste Geschenk von allen
Nach dem Frühstück saß Evie allein im Wohnzimmer; der Umschlag ihrer Mutter lag verschlossen auf ihrem Schoß. Das Haus war düster und kalt, und das Geräusch von Vaters Kettensäge war weit weg.
»Dein Vater denkt immer an dich, auch wenn es so aussieht, als hätte er dich vergessen.«
Evie fragte sich, ob das wahr war.
Das Päckchen von Großmutter, Tante Carol und Onkel Pete war angekommen, und ihre Geburtstagsgeschenke lagen auf dem Boden verstreut. Es waren praktische Geschenke: neue Turnschuhe, ein langer roter Schal, den Großmutter für sie gestrickt hatte, und ein Wollpullover von Tante Carol. Auch Vaters Buch und ihre neuen Jeans lagen auf dem Boden, aber die Karte war das einzige Geschenk, das wirklich wichtig war.
Evie drückte den Umschlag vorsichtig an ihre Wange und konnte das Papier spüren. Dann hielt sie ihn sich unter die Nase und hoffte, dass er nach Mom riechen würde, doch er tat es nicht. Aber wenigstens war das Papier handgeschöpft. Evie erinnerte sich daran, wie Mom in ihrem Arbeitszimmer Papier hergestellt hatte; wie sie Schnipsel aus Packpapier, Kartons und alten Briefen mit Wasser und Stärke vermischte und dann die milchige Masse zum Trocknen auf Gitter presste. Manchmal hatte sie sogar Blätter oder hübsche Perlen auf das frische Papier gedrückt, und Evie fragte sich, ob auch auf dieser Karte so etwas Besonderes sein würde. Etwas, das Mom nur für Evie gemacht hatte.
Ein letztes Mal … Das klang so bittersüß, dass es schon zu bitter war, um noch süß zu sein. Sobald sie die Worte gelesen hatte, gab es nie wieder etwas Neues von Mom. Ich will keine Karte , dachte sie. Ich will Mom wiederhaben . Doch sie wusste, dass sie dieses Geburtstagsgeschenk nicht bekommen würde.
Evie stellte die Karte so auf den Kaminsims, dass nur eine Ecke hinter den Kerzen hervorschimmerte, und holte stattdessen Rodneys Kästchen heraus.
Ganz behutsam hob sie den Deckel ab und betrachtete das Saatkorn. Wieder spürte sie eine Brise und wieder hatte sie den Baum vor Augen – es war ein großer Baum, der mit seinen Ästen weit in den Himmel hinaufragte.
Doch diesmal fürchtete sie sich nicht. Diesmal ließ sie sich in das Bild fallen. Sie sah, wie der Baum immer größer und stärker wurde und alle möglichen Blumen und Pflanzen üppig um seinen Fuß herum wuchsen und blühten. Sie meinte, den satten Geruch von Erde und den zarten Duft von Blumen zu riechen, und als sie die Augen zumachte, stellte sie sich vor, dass die Sonne ihr Gesicht wärmte.
Dann ließ sie den Deckel abrupt zufallen und drückte ihn so fest auf das Kästchen, dass ihre Finger schmerzten. Wie konnte sie so ein Bild nur zulassen?
Evie wünschte, sie könnte Mom von dem Saatkorn erzählen. Sie starrte auf den kaum sichtbaren Rand der Karte und wusste, dass sie den Umschlag öffnen und nachsehen sollte, was darin war. Doch was für einen Sinn machten schon Worte auf einem Stück Papier? Einer Karte konnte man seine Geheimnisse schließlich nicht anvertrauen.
Evie ließ das Kästchen wieder in ihre Jackentasche gleiten.
Vater hat gesagt, dass ich über alles mit ihm reden kann , dachte sie, und Vater war noch da. Er konnte zuhören und antworten und vielleicht würde er sie sogar so umarmen, wie er es früher getan hatte, als sie noch klein gewesen war.
Evie holte ihren Mantel und den neuen Schal und ging nach draußen. Hinter ihr schnappte die Haustür ins Schloss, und sie steuerte auf den Apfelgarten zu. Dort fand sie Vater ein paar Reihen weiter hinten, wo er gerade kleine knorrige Zweige abschnitt. Er trug
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