Evies Garten (German Edition)
seine Schutzbrille und die warme Wintermütze mit den Ohrenschützern, und so bemerkte er Evie erst, als sie direkt neben ihm stand.
»Sprössling«, begrüßte er sie mit von der Kälte geröteten Wangen. »Du hast dich ja regelrecht angeschlichen.« Er stellte die Kettensäge ab.
Evie nickte nur und zog das Kästchen mit dem Saatkorn aus der Tasche.
»Ich … ich wollte dir nur das hier zeigen.«
Sie nahm den Deckel ab und reichte Vater das Kästchen. Jetzt, da er aufgehört hatte zu sägen, war es ganz still im Garten. Evie wartete auf den Wind oder auf warme Sonnenstrahlen, doch es geschah nichts. Sie streckte sogar den Finger aus, um das Saatkorn zu berühren, aber es war kalt.
»Das hab ich doch schon gesehen«, sagte Vater irritiert. »Deswegen hast du mich unterbrochen?«
Evie starrte auf das Kästchen, um das Saatkorn dazu zu bringen, in Vater dasselbe Gefühl hervorzurufen, das es in ihr hervorrief.
»Es ist bloß …« Sie stockte. »Ich hab mich bloß gefragt, ob es vielleicht etwas Besonderes ist oder …«
Ihr Vater gluckste mit rauer Stimme. »Es ist doch nur ein Saatkorn, Sprössling«, sagte er. »Warum pflanzt du es nicht ein und siehst selbst, ob etwas daraus wächst? Pflanze es zuerst in einen Topf im Haus, so wie ein Biologieprojekt.«
Evie klappte den Mund auf und wieder zu. »Ich möchte es aber draußen einpflanzen«, widersprach sie. »Hier im Apfelgarten.«
Vater zuckte mit den Schultern. »Na ja, ich bin nicht sicher, ob es zu dieser Jahreszeit wachsen wird, aber andererseits weiß ich ja auch nicht, ob meine Bäume wachsen. Also, was soll’s? Pflanze es ruhig ein, wo immer du willst. Ich wette, du wirst genau die richtige Stelle finden.«
Er reichte ihr das Kästchen zurück. »Ich werde den ganzen Nachmittag mit der Kettensäge arbeiten«, fügte er hinzu, »also schleich dich nicht noch einmal an, okay?«
Evie nickte und blieb in der Hoffnung stehen, Vater würde sie in die Arme nehmen, aber er betrachtete sie nur aufmerksam.
»Ist alles okay?«, erkundigte er sich. »Hat dir Moms Brief gefallen?«
Evie zuckte mit den Schultern, den Blick immer noch auf das Saatkorn gerichtet. »Ich hab ihn noch nicht aufgemacht.«
»Möchtest du darüber reden?«, fragte Vater, doch sie schüttelte den Kopf, auch wenn die Antwort eigentlich Ja lautete. Sie wollte mit jemandem reden, aber nicht mit Vater.
Sie würde Alex suchen.
Die Suche nach dem Stein
Evie stand vor dem Friedhof.
»Alex?«, rief sie, doch es kam keine Antwort. Sie wollte sich gerade umdrehen und ins Haus zurückgehen, als ihr ein Stück schwarzer Wollstoff ins Auge fiel, der unter dem bauschigen Gewand eines Marmorengels hervorsah. Der Engel war mannsgroß und stand auf einem Sockel. Er streckte die Arme aus, und sein Gewand bildete einen Kreis um die Statue eines Kindes – und um Alex.
Evie holte tief Luft und überschritt die Grenzlinie zum Friedhof. Dann lief sie zu Alex, kniete sich nieder und rüttelte ihn wach. Er sah sie mit schläfrigen Augen an.
»Bin ich eingeschlafen?«, fragte er, und Evie nickte. Sein Haar war verstrubbelt, und er war so blass wie die Marmorstatue, aber er grinste.
»Hey, das sind ja schon zwei Tage hintereinander«, stellte er fest. Er richtete sich auf und zwängte sich unter dem Engelsgewand hervor. »Und heute musste ich dich noch nicht einmal herlocken.«
Evie kniff die Augen zusammen. »Dass du dich gestern beinahe umgebracht hättest, kannst du ja wohl kaum als ›herlocken‹ bezeichnen«, erwiderte sie cool, doch Alex lächelte nur zufrieden.
»Doch – nämlich wenn ich es so geplant hatte.«
»Wenn du es so geplant hast«, gab Evie zurück, »woher hast du dann gewusst, dass ich genau in dem Moment hinsehen würde?«
»Die Kraft der Geister.«
»Das soll wohl ein Witz sein. Geister haben doch keine übersinnlichen Kräfte!«
»Woher willst du dich mit Geistern auskennen? Warst du schon mal einer?«
»Nein«, gab Evie zu, »aber …«
»Dann kannst du es auch nicht wissen.«
Sie seufzte. »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du der nervigste …«
»Du magst mich«, unterbrach Alex sie, bevor sie ausreden konnte.
»Tu ich nicht.«
»Wenn du mich nicht mögen würdest, dann würdest du nicht immer wiederkommen. Mich haben nämlich immer alle gemocht. Vor allem die Erwachsenen. Und die Mädchen.«
Alex wackelte mit den Augenbrauen, doch Evie verdrehte die Augen. »Vielleicht brauche ich bloß deine Geisterkraft«, sagte sie. »Natürlich nur,
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