Evies Garten (German Edition)
wenn sie echt ist.«
»Ist sie«, bekräftigte Alex und straffte die Schultern. »Sag mir einfach, was ich tun soll.«
»Fliegen«, schlug Evie vor.
»Das hab ich noch nicht gelernt.«
»Na, dann dich unsichtbar machen.«
»Das bin ich doch schon.«
»Dann zaubere halt ein magisches Licht oder Blitze oder sonst irgendwas herbei.«
Alex streckte den Arm aus, die Handfläche nach oben gerichtet.
»Ich sehe nichts«, stellte Evie fest.
»Klar ist da was! Ich kann doch nichts dafür, wenn du es nicht sehen kannst.«
Ungeduldig blies sich Evie die Ponyfransen aus den Augen. »Also gut. Wie wär’s dann damit, einen Grabstein zu finden?«
»Welchen?«, fragte Alex sofort interessiert.
»Rodney Claytons.«
Alex verzog ungläubig das Gesicht. »Den alten Rodney? Wozu willst du sein Grab finden?«
Evie zögerte und überlegte, ob sie ihm das Saatkorn zeigen sollte. »Kann ich dir vertrauen?«, fragte sie.
»Bei was?«
»Bei einem Geschenk. Wenn ich es dir zeige, versprichst du mir dann, dass du es niemandem weitersagst?«
»Ich bin doch tot, Dummkopf«, entgegnete Alex. »Wem sollte ich es denn weitersagen?«
Evie holte das Kästchen aus der Tasche. »Das hier war ein Geburtstagsgeschenk von Rodney.«
Alex beugte sich vor. »Aber der alte Rodney ist doch schon vor Monaten gestorben. Wann war denn dein Geburtstag?«
»Heute«, sagte Evie. »Rodney hat mir das hier hinterlassen.«
Alex schauderte. »Ich weiß zwar nicht, was es ist, aber ich wette, es bedeutet Unglück. Alle haben gesagt, dass jemand den alten Rodney verflucht hat.«
»Also ich glaub nicht an Flüche.«
Evie schob den Deckel weg, damit Alex das Saatkorn sehen konnte. Gegen ihren Willen hielt sie den Atem an, weil sie einerseits einen Windstoß und andererseits gar nichts erwartete. Sie schloss sogar die Augen fest gegen … was?
Zuerst passierte gar nichts. Enttäuscht machte Evie die Augen wieder auf. Siehst du? Es ist nichts passiert. Doch dann sah sie, dass Alex’ Augen vor Aufregung funkelten.
»Was ist das?«, fragte er atemlos. »Ist das Magie?«
»Ich weiß auch nicht«, sagte Evie. »Es ist nur ein Saatkorn … glaube ich.« Sie war nicht mehr sicher, was sie noch glauben sollte. »Ist irgendwas passiert? Ich meine, hast du vielleicht eine Brise oder Sonnenstrahlen auf dem Gesicht oder so was gespürt?«
Alex nickte. »Es war warm wie im Frühling.«
Evies Herz zog sich zusammen. »Hilfst du mir, Rodneys Grab zu finden?«, bat sie. »Ich glaube, ich sollte es auf sein Grab pflanzen.«
Sie erwartete, dass Alex Ja sagen würde. Stattdessen wich er einen Schritt zurück.
»Nie im Leben.«
Evie klappte vor Staunen die Kinnlade herunter. »Was? Warum denn nicht?«
»Die Leute aus der Stadt wollten nicht, dass der Alte auf dem Friedhof beerdigt wird. Sie glaubten, er könnte die Toten verfluchen. Deshalb wurde er auf der Apfelplantage begraben. Genau in der Mitte.«
Evie sah die krummen Reihen aus Apfelbäumen an, die wie eine Armee aus Riesen Wache standen. »Dann gehen wir halt in den Apfelgarten«, schlug sie vor, doch Alex’ blasses Gesicht wurde noch bleicher.
»Da traut sich keiner rein«, flüsterte er. »In dem Garten hat der alte Rodney seine Schwester umgebracht, und jetzt saugt ihr Geist das ganze Leben aus dem Garten. Wenn du zwischen die Bäume gehst, zerhackt sie dich mit der Axt, die sie Simon Mackler gestohlen hat. Es stimmt, Evie. Die Axt stand auf seiner Veranda und war am nächsten Tag verschwunden.«
Evie stützte die Hände in die Hüften. »Und das glaubst du?«, fragte sie.
Alex nickte todernst.
»Mein Vater geht jeden Tag in den Garten«, entgegnete sie ungeduldig, »und den hat noch keiner zerhackt. Und außerdem«, fügte sie hinzu, »was könnte ein Geist dir schon antun?«
»Ich wette, sie könnte sich was einfallen lassen«, meinte Alex.
»Wer von uns ist jetzt der Feigling?«, fragte Evie, doch es nützte nichts. Alex schüttelte nur den Kopf, und Evie verlor jede Hoffnung. Sie konnte sehen, dass er sich dagegen entschieden hatte, und eines hatte sie mittlerweile über Alex gelernt: Er war der dickköpfigste Mensch, dem sie je begegnet war.
Wahrheit und Lüge
Für den Rest des Tages musste Evie an den Fluch denken. Sie starrte Rodneys Porträt im Flur an, und sein Blick war so eindringlich, als wollte er ihr sagen, dass die Gerüchte nicht stimmten. Er wirkte entschlossen und zugleich freundlich, so wie ein guter großer Bruder. Vielleicht war das der Grund, warum er ihr das Saatkorn
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