Evies Garten (German Edition)
könnte. Überleg doch mal, Evie: Zu Hause kann niemand mich sehen, aber hier könnte ich jeden zurückholen, den ich zurückholen will. Ich wette, ich brauche dazu noch nicht mal seine Knochen. Ich wette, wenn man sich nur gut genug darauf konzentriert …«
Er schloss die Augen, als wollte er es auf der Stelle ausprobieren, doch Evie packte ihn am Arm. »Du wirst bald selbst ein Skelett sein, genau wie Eva!«
Alex schüttelte den Kopf. »Nein, werde ich nicht«, sagte er bestimmt. »Meine Knochen sind doch schon begraben, und außerdem – warum sollte ich nicht hierbleiben? Zu Hause wartet nichts mehr auf mich. Aber hier habe ich eine ganze Welt, die ich genau so gestalten kann, wie ich will.«
Seine Augen glühten, und Evie schluckte schwer.
Sie dachte an Alex’ Eltern, für die er schon seit über einer Woche tot war. Sie dachte an all das, was Jungen wie Alex mochten, wie zum Beispiel Ferien oder Videospiele, in die Schule zu gehen oder eines Tages den Führerschein zu machen. Aber für jemanden, der schon gestorben war, waren diese Dinge wohl keine Abenteuer mehr. So sagte Evie lieber gar nichts.
»Bist du dir sicher?«, fragte sie stattdessen.
Alex nickte.
»Ich wünschte, es wäre … anders«, murmelte Evie.
Sein Blick wurde weich. »Ich auch. Ich hätte nicht so ausrasten sollen«, fügte er hinzu. »Es ist bloß, dass ich ganz nahe dran war, und ich wusste, dass es funktionieren würde.«
Evie fragte sich, ob er vielleicht recht hatte. Wäre Eva geblieben, wenn Alex es geschafft hätte, sie zurückzuholen? Wäre sie ein Mensch aus Fleisch und Blut geworden oder nur ein Geist?
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Mein Vater sucht sicher schon nach mir.« Sie zögerte. »Wirst du klarkommen?«
»Ja.« Alex nickte. »Das hier ist beinahe so gut wie der Himmel.«
Evie seufzte. Eine ganze Weile standen sie stumm da; keiner von ihnen wollte sich rühren. Dann trat Evie nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Ich werde dich vermissen«, gab sie zu und Alex grinste.
»Klar wirst du das. Ohne Alex den Großen wird dein Leben keinen Spaß mehr machen.«
Evie knuffte ihn freundschaftlich in den Arm, und bevor sie sich selbst bremsen konnte, hatte sie sich schon vorgebeugt und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben.
Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, doch Evie war schon durch den Laden und zur offenen Tür hinaus zum Fahrrad gegangen. Sie drehte sich erst dann um, als sie bereit war loszufahren.
»Tschüss, mach’s gut, Evie!«, rief Alex ihr hinterher und winkte wild aus dem Türrahmen. Evie winkte zurück. Dann beugte sie sich vor und trat kräftig in die Pedale.
Erst als die Kleinstadt schon weit hinter ihr lag, verlangsamte sie ihre Geschwindigkeit. Sie nahm die Hand vom Lenker und legte sich einen Finger an die Lippen. Es war das erste Mal, dass sie einen Jungen geküsst hatte, und sie fragte sich, ob es auch dann zählte, wenn er nur ein Geist war. Aber vielleicht war Alex hier gar kein Geist. Sie konnte immer noch seine warme Haut spüren, und sie begriff, dass er die richtige Entscheidung für sich getroffen hatte: Er hatte sich für das einzige Leben entschieden, das er kannte. Jetzt war es an der Zeit, dass sie dasselbe tat.
Mom
Als sie den Apfelgarten endlich erreicht hatte, ging die Sonne schon unter. Evie spürte, wie die Angst in ihr zu pulsieren begann. Das Bild des sterbenden Baumes quälte sie. Wie lange war sie wohl weg gewesen? Waren es ein paar Stunden gewesen, Tage oder Jahre? Funktionierte die Zeit hier anders?
Ohne Vorwarnung überfiel sie plötzlich der Gedanke, ob Alex mit seiner Vorstellung, dass sie ihre Mutter wiederfinden konnte, vielleicht recht gehabt hatte? Was war, wenn sie keine verstaubten alten Knochen brauchte, um ihre Mutter zurückzuholen?
Musste sie es nicht wenigstens versuchen?
Endlich tauchte der Apfelgarten vor ihr auf. Sie fand den Baum wieder, an dem ihr hellroter Schal flatterte, und lief in den Apfelgarten. Das Blätterdach aus Blüten verschluckte das Mondlicht, und als sie rasch weiterlief, wurde es um sie herum immer dunkler.
Evie fing an zu rennen. Sie tat ihr Bestes, um die sich windende Reihe aus Apfelbäumen nicht aus den Augen zu verlieren. Ihre Beine schmerzten und ihr Herz pochte, doch schließlich bog sie um eine Ecke und dahinter wartete der Baum auf sie. Seine Äste hingen nach unten und fast alle Äpfel waren schon heruntergefallen, aber er war noch da.
Evie ließ sich auf ein Bett aus Farnen sinken.
Wie viel Zeit
Weitere Kostenlose Bücher