Evies Garten (German Edition)
hatte sie noch, bevor der Baum ganz verschwand? Sie fragte sich, was ihr Vater wohl gerade tat. Ob er sie schon vermisste? Vielleicht hatte er noch gar nicht mitbekommen, dass sie verschwunden war? Würde es ihm leidtun, wenn der Baum sich in Luft auflöste und sie zusammen mit Alex in der anderen Welt gefangen blieb?
Dann dachte sie an Mom. Solange sie hier in dieser verzauberten Welt war, hatte sie eine Chance, Mom zu finden.
Entscheidungen , dachte Evie. Die Warnung hatte Entscheidungen erwähnt …
Evie setzte sich auf und verschränkte die Beine. Sie stellte sich ihre Mutter vor. Als sie die Augen zumachte, spürte sie, dass die Brise kälter wurde, doch sie zwang sich, nicht darauf zu achten.
»Ich werde es rechtzeitig schaffen«, flüsterte sie.
Sie atmete tief ein, doch ihre Gedanken sprangen wild von einer Sache zur nächsten. Sie musste an Alex denken, dann an ihren Vater, dann an ihre Mutter. Evie fragte sich, wie Mom wohl aussehen würde und was Evie als Erstes sagen sollte, wenn sie ihre Mutter sah.
Sie bemühte sich, innerlich zur Ruhe zu kommen, doch ihr Herz klopfte heftig. Sie bemerkte, dass die Apfelblüten am Boden schon fast wie Schnee aussahen. Das Moos unter ihr wurde hart, und der dumpfe Schlag eines fallenden Apfels ließ sie zusammenzucken. Sie schmiegte sich eng an den Baumstamm.
»Nimm dich zusammen«, ermahnte sie sich.
Zuerst konnte sie sich nicht auf ein einzelnes Bild ihrer Mutter konzentrieren. In ihrem Kopf schwirrten einfach zu viele Bilder herum – doch dann sah Evie plötzlich ihre liebste Erinnerung vor sich – die echte Mom, die gesund und schön war. Sie erinnerte sich wieder genau an sie und daran, wie sie neben ihr auf dem Bett saß und im Licht der Nachttischlampe aus einem Buch vorlas.
Evies Atem wurde ruhiger. »Mom«, flüsterte sie, »bitte komm zu mir.«
Sie erinnerte sich an die hochgewachsene, anmutige Gestalt und daran, wie sich die weiche Haut auf ihrem Arm angefühlt hatte. Sie sah wieder das dichte Haar vor sich, das in spiralförmigen Locken auf Moms Schultern fiel und nach den Räucherstäbchen roch, die Mom immer in ihrem Atelier brennen ließ. Evie betrachtete die rosigen Wangen ihrer Mutter und hörte das zärtliche Singen in ihrer Stimme, als sie vorlas.
Evies Augenlider wurden schwer, und der Wind verwandelte sich in ein tröstliches Summen. Sie wollte in einen friedlichen Schlaf sinken, doch dann spürte sie das sanfte Streicheln von Fingern, die ihr das Haar aus der Stirn strichen. Die Finger zeichneten die Linien in ihrem Gesicht, ihre Wangenknochen und Lippen nach. Evie öffnete die Augen – und sah ihre Mutter, die in goldenes Licht getaucht war.
Sie lächelte das vertraute Lächeln voller Liebe und sagte etwas, das Evie nicht ganz verstehen konnte, weil die Stimme ihrer Mutter denselben Klang hatte wie der Wind.
»Ich hab dich lieb« , schien ihre Mutter zu sagen und beugte sich so nahe heran, dass Evie fast ihren Atem im Gesicht spüren konnte.
Dann richtete ihre Mutter sich auf und sah Evie in die Augen. »Geh nach Hause« , flüsterte sie, doch Evie schüttelte den Kopf.
Evie konnte doch jetzt, wo sie ihrer Mutter so nahe war, nicht nach Hause gehen! Sie erhob sich unsicher und streckte die Arme aus, doch ihre Hände schnitten durch das goldene Licht, als wäre es nur Nebel.
Ihre Mutter sagte noch etwas anderes, aber dieses Mal übertönte der Wind ihre Stimme, sodass Evie sie kaum verstehen konnte. Es klang, als würde Mom sagen, sie solle klug und tapfer sein, aber da wurde das Licht auch schon schwächer. Dann zog ihre Mutter mit einer Geste, die Evie so vertraut war, dass sie wie gebannt stehen blieb, die Augenbraue hoch.
In diesem Augenblick fiel ein Apfel herunter. Evie fing ihn auf und als sie den Kopf wieder hob, verglomm auch der letzte Rest des golden schimmernden Lichts.
Das Bild war verschwunden.
»Nein!«, schrie Evie. »Nimm mich mit!«
Unter ihr schaukelte die Erde. Sie verlor das Gleichgewicht und streckte die Hand nach dem Baumstamm aus, um sich an ihm festzuhalten, doch er versank rasch und rascher im Boden.
Der Wind wirbelte ein letztes Mal um sie herum. Als nur noch ein Ast aus der Erde ragte, wusste Evie, dies war ihre letzte Chance.
Sie hob den Apfel an den Mund und biss hinein.
Der Suchtrupp
Als Evie die Augen wieder aufmachte, lag sie im Apfelgarten auf dem Rücken. Sie fror, und kein verzauberter Baum breitete seine Äste über ihr aus. Es waren nur noch die knorrigen Apfelbäume und die nackte
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