Evies Garten (German Edition)
Wendeltreppe hinab und kam an einer großen Tür vorbei, auf der KELLER, ZUTRITT VERBOTEN stand. Dann bog sie um eine Ecke und kam in die Kinderbuchabteilung.
»Mom?«, rief sie, doch das Zimmer war leer.
Evie ließ sich auf eines der kleinen Plastikstühlchen fallen und wünschte sich plötzlich, in der echten Bücherei zu sein, wo sie einen Stapel Bücher ausleihen könnte. Den würde sie mit nach Hause nehmen, es sich auf ihrem Bett gemütlich machen und Geschichten lesen, die zwischen den Seiten blieben, auf die sie gedruckt waren.
Vielleicht könnte sie sogar Vater dazu bringen, eine Geschichte mit ihr zusammen zu lesen.
Aber was war, wenn sie nie mehr nach Hause zurückfand?
Evie stand auf und ging wieder nach oben, wo sie Alex in einem kleinen Leseraum fand. Er lag auf dem Boden und las ein Comic-Heft.
»Ist das nicht toll, Evie?«, sagte er begeistert. »Wir können machen, was wir wollen, und wenn wir erst mal die anderen finden, wird es perfekt sein …«
Evie schob ein Comic-Heft mit der Schuhspitze weg. »Ich glaube nicht, dass wir irgendjemanden finden«, sagte sie. »Die sind alle zu Hause in der echten Welt.«
Alex runzelte die Stirn. »Vielleicht gibt es Leute, die genau da sind, wo wir auch sind, nur können wir sie nicht sehen.« Er hielt inne. »Es ist, als wären wir beide jetzt tot.«
Evie erschrak, als ihr klar wurde, dass es sich genauso anfühlte.
»Komm, wir gehen«, schlug sie vor und ging zum Ausgang zurück. Sie zog die Tür auf und trat hinaus in die helle Sonne. Der schwere Blumenduft, der in der Luft lag, war so intensiv, dass ihr fast schlecht davon wurde. Eine unheimliche Stille umgab sie, und jetzt bemerkte sie auch, dass in ganz Beaumont kein einziges Geräusch zu hören war. Das hölzerne Schild, das vor dem Lebensmittelgeschäft hing, schaukelte still hin und her, als wäre es ein Gespenst.
Dieses neue Beaumont erinnerte sie an die Zeiten, in denen sie Mom bei dem Entwickeln von Negativen zugeschaut hatte. Jedes Foto hatte ein Negativ, auf dem dasselbe Motiv war – nur umgekehrt. Statt Schwarz auf Weiß war es Weiß auf Schwarz. Das alte Beaumont war kalt und grau gewesen, und das einzig Lebendige darin waren seine Einwohner. Dieses Beaumont hier war hell und sonnig und voller lebender Pflanzen – doch es war totenstill und menschenleer.
Alex holte sie ein. »Ich will noch nicht nach Hause«, bettelte er. »Lass uns noch woandershin gehen.« Er sah Maggies Geschäft. »Wie wär’s mit dem Farmerladen?«
Evie blickte auf die andere Straßenseite. Die Wände von Claytons Farmzubehör erstrahlten in einem saftigen Grün, und sie fragte sich, ob Maggie wohl da war. Wusste sie, dass Evie ihr Versprechen gebrochen hatte?
Evie zögerte, doch Alex schob bereits sein Fahrrad über die Straße. Sie folgte ihm langsam, und als sie näher an Maggies Laden herankamen, bekam sie eine Gänsehaut, weil sie der Gedanke an die düsteren, knorrigen Bäume im Apfelgarten überfiel.
Alex ließ sein Fahrrad neben dem Laden fallen und stieß die Tür auf.
»Das musst du dir unbedingt ansehen«, murmelte er, während er in den Ladenraum spähte. Jeder Zentimeter des Raums war mit dunklen Brombeersträuchern, dichtem Unkraut und Schlingpflanzen bedeckt. »Ob jemand hier ist?«
Er zwängte sich durch den Türspalt. Evie stellte ihr Rad neben seinem ab und folgte ihm in den Laden. Drinnen versuchte sie, sich mit den Händen einen Weg durch die überall wuchernden Sträucher zu bahnen. Dornen zerkratzten ihre Haut. Der Raum hatte etwas Zorniges an sich – ganz anders als Maggies Laden im echten Beaumont.
»Hier ist mit Sicherheit keiner«, stellte Evie fest. »In diesem Dschungel ist niemand.«
Sie stolperte über eine Schlingpflanze und stürzte. Als sie den Boden berührte, wirbelte eine Staubwolke auf. In diesem Moment sah sie die Knochen. Sie lagen wie brüchige graue Äste am Boden. Sie sprang auf, wich zurück und stieß gegen Alex.
»Was ist los?«, fragte er.
»Sieh mal!« Evie zeigte auf den Boden, und seine Augen fingen an zu leuchten.
»Irre!«, sagte er, doch Evie schüttelte den Kopf.
»Nein, ist es nicht. Begreifst du denn nicht? Das ist Eva.«
Eine innere Stimme sagte Evie, dass sie recht hatte.
»Denk doch mal nach«, drängte sie Alex. »Maggies Schwester hat ein Saatkorn gepflanzt, genau wie wir, und dann ist sie verschwunden und keiner hat sie je wieder gesehen. Dieser Raum … sie muss hier gestorben sein. Wer weiß, wie lange sie noch gelebt hat.
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