Evies Garten (German Edition)
ganz abfiel.
Vor ihr stand Alex. Er hatte zwar einen Anzug an, in dem er etwas älter wirkte, und sein Haar war ordentlich gekämmt, aber ansonsten glich das Bild Alex. Seine Hand ruhte auf einem Treppengeländer, und er sah so fein aus wie ein Prinz. Gerade als sie überlegte, was wohl auf dem zweiten Bild zu sehen war, kam Alex ins Zimmer.
»Deck das wieder zu.«
Seine Stimme ließ Evie schuldbewusst zusammenfahren.
»Entschuldige«, sagte sie verlegen. »Ich …«
»Mom will, dass sie zugedeckt bleiben«, unterbrach Alex sie. »Sie kann es nicht ertragen, die Porträts zu sehen. Deswegen haben wir Tücher darübergehängt.«
Evie hielt immer noch den Zipfel des schwarzen Tuchs in der Hand. Sie wollte es wieder ordentlich zuhängen, als Alex neben sie trat und die Umrisse des einen glänzenden Lackschuhs mit dem Finger nachzeichnete.
»Ich kann mich noch daran erinnern, wie es gemalt wurde«, erzählte er schließlich. »Ich musste ganz lange still stehen und die Hand auf dem Geländer liegen lassen, und Mom war sauer, weil ich zu sehr gezappelt habe.« Seine Stirn legte sich in tiefe Falten, während sein Zeigefinger über eine weitere Linie strich.
»Es muss doch jemand zu Hause sein«, flüsterte er und schüttelte den Kopf.
»Wen suchst du denn?«, fragte Evie.
Alex hob kurz den Kopf. »Alle«, antwortete er. »Meine Eltern, den Gärtner, die Köchin … Wo stecken sie bloß?«
Evie hatte sich dasselbe gefragt.
»Ich weiß, dass sie irgendwo hier sind«, sagte Alex. »Es sei denn, sie sind in die Stadt gefahren. Glaubst du, deine Mutter ist vielleicht auch dort? Ich habe ein zweites Fahrrad; wir könnten also gleich losfahren.« Er ging zur Tür. Dort blieb er stehen und sah Evie prüfend an. »Du hast doch nicht etwa Angst, oder?«
Evie verzog das Gesicht und zwirbelte das schwarze Tuch zu einem festen Strang.
»Natürlich nicht«, sagte sie, doch das war gelogen. Sie musste an den Baum denken, und mit jeder Minute wurde aus einem winzigen Angstfunken eine immer größere Flamme.
Wie war das in den Märchen und Legenden … hatte es jemals eine Umkehr gegeben, nachdem man in den Apfel gebissen hatte?
In der Stadt
Wie Alex versprochen hatte, standen in der Garage zwei Fahrräder. Eigentlich waren es sogar vier, doch zwei davon waren für Erwachsene, und so nahm Evie das eine goldene Jugendrad und Alex das andere. Auf dem Sitz lag eine Staubschicht, die Evie wegpustete. Alex sauste bereits die Auffahrt hinunter und steuerte wieder auf ein unsichtbares Ziel zu.
»Bist du sicher, dass du weißt, wie wir hinkommen?«, rief Evie ihm zu, nachdem sie schon eine Weile geradelt waren. Aus der asphaltierten Straße wurde ein Kiesweg, und die Fahrräder holperten über die losen Kieselsteine. Evie wurde warm, sie begann zu schwitzen und schob die Ärmel ihres Pullovers hoch, die jedoch wieder herunterrutschten.
»Ich bin den Weg schon tausendmal gefahren«, rief Alex, der vorausfuhr, ihr zu. »Einfach geradeaus.«
Tatsächlich erreichten sie bald darauf die Hauptstraße. Dort bremsten beide abrupt und blieben stehen.
Evie riss vor Staunen die Augen auf.
Die ganze Stadt war mit Blumen geschmückt. Die Holzbretter, mit denen die Türen und Fenster der leer stehenden Läden zugenagelt waren, waren in die buntesten Farben getaucht, und um die Straßenlampen rankten sich Girlanden aus Efeu. Beaumont sah prächtig aus. Es war ein wahres Kunstwerk, schön wie gemalt, ein Gemälde, bei dem jede Farbe in die nächste überging.
»Unglaublich«, flüsterte Evie.
»Wo fahren wir als Erstes hin?«, fragte Alex.
Evie sah sich um und entdeckte die Bücherei. Wenn ihre Mutter hier war, dann in der Bücherei. »Dahin«, sagte sie.
Sie radelten zusammen die Hauptstraße entlang. Dann stellten sie die Fahrräder in den Himbeerbüschen ab, die das Fahrradgestell überwucherten.
Alex pflückte rasch ein paar Beeren, doch Evie rannte die Stufen hinauf und stieß die Eingangstür zur Bücherei auf. Drinnen wartete Evie auf ein Gefühl – irgendeinen kleinen Funken, der ihr verriet, dass Mom in der Nähe war –, doch da war nichts.
Sie biss sich auf die Unterlippe, als Alex hinter ihr die Treppe hinaufkam.
»Es ist alles so komisch«, flüsterte er. »Eigentlich müsste die Büchereiangestellte dort an ihrem Platz sitzen.« Er zeigte auf einen leeren Stuhl hinter einem Schreibtisch mitten im Raum. »Willst du dich umsehen?«
Evie nickte.
»Ich geh runter«, sagte sie und verließ den Raum. Sie stieg eine
Weitere Kostenlose Bücher