Evies Garten (German Edition)
Vielleicht hat sie versucht, nach Hause zurückzugehen, es aber nicht mehr geschafft.«
»Oder vielleicht wollte sie auch hierbleiben.«
Evie runzelte ungläubig die Stirn. »Wer will schon hierbleiben?«, widersprach sie, doch Alex streckte die Hand nach den brüchigen Fingern der Toten aus.
»Was machst du da?«, fragte Evie entsetzt.
Alex atmete schwer. »Jetzt begreife ich«, erklärte er. »Jetzt weiß ich, wie wir die Leute zurückholen können.«
»Wovon redest du eigentlich …?«, begann Evie, doch Alex hatte schon die Augen fest geschlossen. Er atmete tief ein und aus, und Evie spürte, wie Wärme den Raum durchflutete. Eine sanfte Brise wehte durch den Laden. Und dann leuchtete ein goldenes Licht dort auf, wo Alex seinen Finger auf die Knochen gelegt hatte.
»Lebe«, murmelte er.
Das Licht wurde heller, und die Hand des Jungen fing an zu zittern. Evie erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, die Farbe der Blüte zu verändern – so als würde sie das Leben um sich herum aufnehmen und zu etwas formen, das sie sich wünschte. Ihr war klar, dass Alex jetzt genau dasselbe tat – doch welche Gestalt würden die Knochen annehmen?
Schwache Umrisse formten sich im Lichtschimmer. Sie sahen eher aus wie die Zeichnung eines Menschen als wie ein lebendiger Mensch, doch die Zeichnung wurde allmählich lebendig. Stück für Stück verwandelte sie sich in eine alte Frau, die die Kinder ansah.
Eva.
Evie konnte nicht anders. Sie streckte die Hand aus, doch ihre Finger zerschnitten das Licht, als wäre es nur Luft. Dann wehte eine neue Brise an ihr vorbei. Sie war kalt wie der Oktoberwind im echten Beaumont. Alex’ Hand bebte, und die Gestalt im Licht beugte sich vor. Sie sah Evie direkt in die Augen. Ihr Blick war flehend.
Was will sie mir sagen?
Ihr Mund formte Worte, die Evie nicht hören konnte, da die Stimme der alten Frau wie der Wind war. Evie lauschte angestrengt.
Wollte die Frau die Kinder warnen?
Die alte Eva sah sie flehend an, und plötzlich glaubte Evie zu verstehen.
Sie wollte nicht zurückkommen.
»Hör auf!«, bat Evie, doch ihre Stimme war heiser, und Alex schien nichts zu hören. Das Licht wurde immer heller, und die Umrisse der alten Frau wurden noch schärfer.
Plötzlich sah Evie den Zauberbaum ganz deutlich vor ihrem inneren Auge, aber er hatte sich furchtbar verändert. Er ließ die Äste hängen, und seine Äpfel fielen einer nach dem anderen herunter – er starb!
»Keine Zeit« , schien die alte Eva zu sagen, und Evie begriff.
Sie drehte sich zu Alex um, der sich so sehr auf seine Aufgabe konzentrierte, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Evie konnte es nicht länger ertragen. Sie streckte den Arm aus und berührte einen Fingerknochen des Skeletts. Sie dachte an die Grünlilie in ihrem Wohnzimmer und holte tief Luft.
Diesmal dachte sie nicht an den Fluss des Lebens. Kälte strömte in ihre Fingerspitzen, und das Licht wurde schwächer. Evie hörte, wie Alex neben ihr keuchte. Sie spürte die Ebbe und Flut des Lebens zwischen sich und ihm, die beiden Kräfte, die einander bekämpften, doch es war Evie, die siegte. Der Rest des goldenen Lichts verschwand mit einem letzten Aufflackern, und Alex sank auf die Knie.
Als er sich ihr zuwandte, waren seine Augen so dunkel wie Sturmwolken.
»Warum hast du das getan?«, fragte er wütend. »Ich hatte sie schon fast wieder zurückgeholt.«
»Sie wollte nicht zurückkommen«, sagte Evie, doch Alex stand zornig auf.
»Wollte sie doch. Ich hab sie im Geist gesehen, und sie sagte Ja. Hätte ich die Sache zu Ende bringen können, dann hätten wir vielleicht als Nächstes deine Mutter zurückholen können, aber du hast alles ruiniert.«
Evie fiel vor Überraschung die Kinnlade herunter. »Ich sag dir, es war nicht richtig …«
Alex ließ sie nicht ausreden. »Wenn du eh nicht dran glaubst, dann geh doch nach Hause.«
»Genau das wollte Eva uns auch sagen«, antwortete Evie aufgebracht und ballte die Fäuste. »Wenn du nicht so stur wärst, hättest du es vielleicht kapiert. Wir müssen zurückgehen, bevor der Baum vergeht, denn sonst stecken wir hier beide genauso fest wie sie damals.«
»Ich bin nicht stur«, sagte Alex. »Aber ich bleibe hier.«
Evies Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Was?«, stammelte sie. »Aber hier ist doch niemand! Warum willst du hierbleiben, wo du ganz allein bist?«
»Erstens ist hier noch niemand«, sagte Alex, »und dann geht es darum, dass es noch viele andere geben
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