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Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Titel: Evolution, Zivilisation und Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Mersch
Vom Netzwerk:
sich hin.
    Das Netzwerk hat eine klare System-Umwelt-Grenze, und zwar die Steckdosen an der Wand. Man könnte sie auch als die Augen des Systems bezeichnen. Innerhalb des Systems wird eine permanente und somit anschlussfähige Kommunikation aufrechterhalten. Die einzelnen Rechner würden sich nämlich pausenlos gegenseitig wie folgt abfragen:
„Bist du noch da?“

Wenn nein, dann würden E-Mails für den Empfangsrechner entweder zunächst zurückgehalten, das heißt, auf dem Senderechner im Rahmen eines Store-and-Forward-Verfahrens zwischengespeichert, oder gemäß einer Routing-Tabelle an einen anderen Netzwerkrechner weitergeleitet.

Die Kommunikation ist also kontingent.
Sofern auf dem Senderechner E-Mails für den Empfangsrechner bereitstehen: „Kannst du von mir Daten entgegennehmen?“

Wenn ja: Übertragung der Daten.

Wenn nein: Ähnliche Reaktion wie bei der ersten Frage.
    Nur diese Kommunikationen sind innerhalb des Gesamtsystems als sinnhaft zu bezeichnen. Ferner ist das Computernetzwerk selbstreferenziell, operationell geschlossen, strukturdeterminiert und es basiert ausschließlich auf Kommunikation. Gemäß den Definitionen der Systemtheorie könnte es also ohne weiteres als soziales System aufgefasst werden.
    Ein naheliegender Einwand gegen unser Denkmodell wäre: Die Kommunikation innerhalb des Computernetzwerks ist maschinenbasiert, folglich kann nicht wirklich von einem sozialen System gesprochen werden. Doch dieser Einwand ist nicht stichhaltig, denn die Kommunikation zwischen den Netzwerkrechnern ließe sich ja auch von Menschen abwickeln, beispielsweise, indem diese Faxe untereinander austauschen.
    Könnte sich ein solches selbstreferenzielles, operationell geschlossenes, strukturdeterminiertes und autopoietisches Kommunikationssystem selbstständig weiterentwickeln und an neue Umweltgegebenheiten anpassen? Gehtes diesem System in erster Linie um die eigene Selbsterhaltung? Besitzt es eine eigene Identität? Offenkundig nicht.
    Im Grunde haben wir es hier mit einer Variante des klassischen Leib-SeeleProblems der Philosophie zu tun (Precht 2007: 51ff.): Gemäß Niklas Luhmann bestehen soziale Systeme nur aus Kommunikationen – sind also letztlich immaterielle Entitäten –, während alles Physische (Menschen, Gebäude, Maschinen etc.) zur Umwelt gehört. Niklas Luhmann nimmt hier – ähnlich René Descartes – eine dualistische Position mit einer klaren Trennung von Seele und Körper ein.
    Ich werde in den nächsten Abschnitten zeigen, dass der Luhmannschen Systemtheorie aufgrund der vollständigen Auslagerung des Menschen aus den sozialen Systemen in deren Umwelten etwas ganz Entscheidendes verloren gegangen ist.
3.5 Selbsterhaltende Systeme
    Unter
Ontogenese
versteht man die Geschichte des strukturellen Wandels einer Einheit ohne Verlust ihrer Organisation.
    Beispielsweise entsteht ein neues Lebewesen zunächst aus einer einzigen Zelle, um sich dann durch Zellteilung und -erneuerung schließlich zu einem erwachsenen Individuum zu entwickeln. Hierbei handelt es sich also um die Ontogenese eines einzelnen Lebewesens.
    Die
Phylogenese
bezeichnet dagegen die stammesgeschichtliche Entwicklung (biologische Evolution) der Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte. Gemäß der biologischen Evolutionstheorie (siehe dazu den Abschnitt
Biologische Evolutionstheorie
auf Seite → ) wird sie entscheidend durch den Fortpflanzungsprozess vorangetrieben.
    Interessanterweise handelt es sich hierbei nun aber genau um den gleichen Prozess, der die Ontogenese von Populationen bewirkt (Vollmer 1994: 63). Denn während Lebewesen (Organismen) letztlich Aggregationen von Zellen sind (autopoietische Systeme zweiter Ordnung), setzen sich Populationen aus Lebewesen der gleichen biologischen Art zusammen (autopoietische Systeme dritter Ordnung). Lebewesen reproduzieren ihre eigene Struktur (
Strukturerhaltung
) im Wesentlichen durch Zellteilung und -erneuerung, Populationen dagegen mittels der Fortpflanzung (Reproduktion) ihrer Mitglieder.
    Und damit komme ich auf den bereits auf den letzten Seiten angekündigten wesentlichen Unterschied zwischen Organismen und Populationen (ebenso: Gesellschaften, Organisationen) zu sprechen: Während es Lebewesen primär um Selbsterhalt und Fortpflanzung geht (Maturana/Varela 1990: 129; Zahavi/Zahavi 1998: 221f.; Uhl/Voland 2002: 35; Schmidt-Salomon 2006: 17; Wickler/Seibt 1991), steht bei Populationen nur noch der Selbsterhalt im Vordergrund, denn die Fortpflanzung ihrer Individuen

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