Evolution, Zivilisation und Verschwendung
reproduzieren
39 .
Gemäß Maturana und Varela lassen sich autopoietische Systeme verschiedener Ordnungen unterscheiden (Maturana/Varela 1990: 98):
Zellen sind
autopoietische Systeme erster Ordnung
und werden deshalb auch als autopoietische Einheiten bezeichnet.
Organismen (Mehrzeller) umfassen Zellen (autopoietische Systeme erster Ordnung) als Bestandteile ihrer Struktur und werden deshalb
autopoietische Systeme zweiter Ordnung
genannt. Maturana und Varela lassen offen, ob Mehrzeller im Sinne der obigen Definitionen auch autopoietische Systeme erster Ordnung (autopoietische Einheiten) sein können (Maturana/Varela 1990: 98).
Populationen und Gesellschaften sind
Systeme dritter Ordnung
. Ihre Bestandteile sind Organismen (Mehrzeller), das heißt, autopoietische Systeme zweiter Ordnung.
Menschliche Gesellschaften mit regelmäßigen Zu- und Abwanderungen wären im obigen Sinne nicht autopoietisch, da sie nicht alle Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Als autopoietisch könnten folglich nur Populationen bezeichnet werden, die vollständig abgeschlossen leben. Allerdings besitzen natürliche Populationen meist keine eigene Identität und wären somit selbst bei einem fehlenden Austausch mit anderen Populationen nicht wirklich autonom und damit auch nicht autopoietisch 40 .
Zusammengesetzte, komplexe Systeme lassen sich auch noch durch den Grad der Autonomie ihrer Komponenten voneinander unterscheiden und dementsprechend auf einer Skala anordnen. Am einen Ende der Skala (minimale Autonomie) würden dann die Organismen (Mehrzeller) stehen, in der Mitte zum Beispiel Organisationen sozialer Insekten, und am anderen Ende (maximale Autonomie) menschliche Gesellschaften.
Allerdings bestehen zwischen Organismen auf der einen, und Gesellschaften beziehungsweise Populationen auf der anderen Seite noch bedeutsamere Unterschiede als der Grad der Kopplung ihrer Elemente. Ich werde auf den nächsten Seiten darauf noch zu sprechen kommen, und dabei einen weiteren, auf Basis der enormen Kooperationsfähigkeit des Menschen entstehenden Systemtyp vorstellen: Die Organisationssysteme (Organisationen).
3.4 Luhmannsche Systemtheorie
Niklas Luhmann übertrug im Rahmen seiner
Systemtheorie
den Begriff der Autopoiesis auf
soziale Systeme
und damit von der Biologie in die Soziologie, wobei er sich gedanklich sehr weit an den Vorstellungen Maturanas und Varelas orientierte (Luhmann 1995: 56):
Als autopoietisch wollen wir Systeme nennen, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren.
Und weiter (Luhmann 1995: 189):
Autopoiesis heißt: Selbstreproduktion des Systems auf der Basis seiner eigenen Elemente.
Darauf aufbauend definiert die Systemtheorie
soziale Systeme
als autopoietische Systeme sinnhafter Kommunikation (Luhmann 2004: 269):
Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.
Die Luhmannsche Systemtheorie behauptet nun, Kommunikation operiere in sozialen Systemen auf ganz ähnliche Weise wie die Selbstreproduktion lebender Organismen: So wie Lebewesen nur Stoffe aus der Umwelt aufnehmen, die für ihre Selbstreproduktion relevant sind (und alles andere wieder ausscheiden), nehmen auch Kommunikationssysteme in ihrer Umwelt nur das wahr, was zu ihrem Thema „passt“ und damit „Sinn“ macht.
Sinn
ist somit ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität: Aus der unendlich komplexen Umwelt wird nach bestimmten Kriterien nur ein kleiner Teil herausgefiltert. Eine zentrale Funktion sozialer Systeme ist folglich die Komplexitätsreduzierung, das heißt, die Einschränkung der Gesamtheit der in der Welt (Umwelt) möglichen Zustände auf einen Sinnzusammenhang.
Die Kommunikation innerhalb eines sozialen Systems bezieht sich gemäß dieser Auffassung nicht wirklich auf die Umwelt, sondern stattdessen nur auf die von ihr nach ihren eigenen Gesetzen wahrgenommene innere Abbildung der Umwelt, also letztlich auf sich selbst. Diese
Selbstbezüglichkeit
, auch
Selbstreferenzialität
oder
Autoreferenzialität
genannt, betrachtet die Systemtheorie als typisch für jede Kommunikation und vergleichbar mit dem Phänomen der Autopoiesis in der Biologie. Sie verwendet deshalb die
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