Evolution, Zivilisation und Verschwendung
und Spezifizierung.
In den einzelnen Lebewesen findet eine ständige interne Reproduktion als Teil der Ontogenese statt, zum Beispiel in Form der regelmäßigen Zellerneuerung 87 . Beim Menschen können auch Weiterbildungsmaßnahmen, regelmäßiges Muskeltraining, Entspannungsübungen etc. dazu gezählt werden 88 . Ebenfalls lässt sich der Schlaf darunter einordnen.
Alle diese Maßnahmen dienen in erster Linie dem Selbst- und Kompetenzerhalt von Individuen. Da einzelne Lebewesen bestenfalls wenige hundert Jahre alt werden, in geologischen Zeiträumen betrachtet also nur für einen kurzen Augenblick leben, ist durch eine solche Individuuminterne Reproduktion noch nicht der langfristige Wandel und Selbsterhalt von Populationen erklärbar. Hier kommt nun die Fortpflanzung ins Spiel. Wenn Individuen altern und sterben, gehen mit ihnen ihre Strukturen und ihre unmittelbaren Kompetenzen verloren 89 .
In biologischen Populationen bedeutet reproduktive
Strukturerhaltung
zunächst einmal: Jedes alternde beziehungsweise sterbende Lebewesen ist durch mindestens ein neues (des gleichen Geschlechts) zu ersetzen.
Da Lebewesen nur eine begrenzte Lebensdauer besitzen, verfällt ihre Struktur nach einer gewissen Zeit. Sie benötigen dann einen Nachfolger. Strukturerhaltung setzt deshalb im Wesentlichen eine mengenmäßig bestandserhaltende Reproduktion voraus. In modernen menschlichen Gesellschaften ist dafür eine Fertilitätsrate von 2,1 erforderlich.
Bei der Fortpflanzung handelt es sich um eine Möglichkeit, die Strukturen und Kompetenzen in vergleichbarer Qualität zu erneuern, so dass die Ressourcen des Lebensraumes wieder ähnlich gut verwertet werden können. Die Effizienz (
Adaption
) der Population bleibt dann erhalten, und die Generationengerechtigkeit wird gewahrt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die Individuen auch anteilsmäßig entsprechend vermehren, und sich nicht etwa eine Teilgruppe mit sehr ausgeprägten Kompetenzen überwiegend oder ganz aus der Nachwuchsarbeit heraushält, denn das würde sogar das Prinzip der Generationengerechtigkeit (Tremmel 2005: 98) verletzen. Die Bedingung eines nicht negativ mit der Fitness der Individuen korrelierenden Reproduktionsinteresses bei der überwiegenden Zahl der Individuen einer Population dient also indirekt auch der Sicherstellung des Prinzips der Generationengerechtigkeit.
Beim Menschen erfolgt die Erneuerung der Kompetenzen nicht nur mittels Fortpflanzung, sondern ganz entscheidend auch durch die sich daran anschließenden langjährigen Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen. Die Kompetenzen des Nachwuchses basieren deshalb sowohl auf genetischen als auch kulturellen Faktoren, wobei letztere nicht allein durch staatliche Erziehungs- und Bildungseinrichtungen vermittelt werden, sondern wesentlich auch durch den Sozialisationsprozess in der Familie. Beim Menschen umfasst der
Reproduktionsprozess
folglich sowohl die Fortpflanzung, als auch Sozialisation, Erziehung und Bildung.
Auch bei Organisationssystemen (zum Beispiel Unternehmen) steht der eigene Selbsterhalt im Vordergrund, der sich in Strukturerhalt und Kompetenzerhalt untergliedert. Beispielsweise wird ein erfolgreicher Pharmakonzern auch in Zukunft mit einem konkurrenzfähigen Angebot aufwarten wollen. Dazu ist aber die regelmäßige Erneuerung der eigenen Kompetenzen, das heißt der Produktpalette (= Medikamente), erforderlich. Dies geschieht in der Forschung & Entwicklung, bei der es sich um die konzerninterne Reproduktion handelt.
Erfolgreichere und besser an die Märkte (Milieu) angepasste Unternehmen (= höhere Umsätze und Gewinne = mehr Ressourcen) können mehr in ihre Reproduktion (Forschung & Entwicklung; Investitionen in Humanressourcen und Anlagen) investieren als etwa ihre unmittelbaren Konkurrenten 90 . Es ist dann nicht unwahrscheinlich, dass sie ihren Marktvorsprung beziehungsweise ihre relativen Kompetenzen bewahren. Eine Garantie dafür gibt es allerdings nicht. Beispielsweise könnte einem Konkurrenten zufällig eine entscheidende Innovation gelingen, so dass er den bisherigen Marktführer überflügeln kann. Dies ist bei der biologischen Evolution jedoch nicht anders, denn auch dort spielt der Zufall eine ganz entscheidende Rolle.
Leistungsfähige Marktwirtschaften erleichtern meist ganz gezielt den Markteintritt neuer Anbieter, zum Beispiel durch Regelwerke oder Finanzierungsmöglichkeiten. Im Prinzip sind solche Maßnahmen dem Reproduktionsprozess zuzurechnen, da sie
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