Evolution, Zivilisation und Verschwendung
variationsfördernde Eigenschaften besitzen (siehe Abschnitt
Selbsterhaltende Systeme
auf Seite 45 ).
Wie die Beispiele zeigen, können
Reproduktionsprozesse
und die sie tragenden „Replikatoren“ auf ganz unterschiedliche Weise realisiert werden, in Lebewesen etwa als Zellerneuerung, in Populationen durch Fortpflanzung und Elterninvestments und in Unternehmen durch Forschung & Entwicklung. Gemeinsam ist aber allen diesen Fällen der Überlebenswille der Beteiligten, der in erster Linie darauf zielt, vorhandene Strukturen und Kompetenzen zu erhalten, zu erneuern oder gar zu verbessern. Damit Evolution tatsächlich geschehen kann, darf aber der Überlebenswille mit zunehmender Anpassung an den aktuellen Lebensraum nicht zurückgehen (wie dies in modernen menschlichen Gesellschaften leider der Fall ist).
Der im
Prinzip Reproduktion
formulierte
Struktur- und Kompetenzerhalt
ist nur dann gegeben, wenn Lebewesen im Mittel so viele Nachkommen haben möchten, dass diese sie nach Ablauf ihres Lebens vollständig – das heißt strukturell und adaptiv – „ersetzen“ können. Dafür müssen sie aber ein entsprechend hohes Reproduktionsinteresse besitzen, und zwar bei der sexuellen Fortpflanzung für durchschnittlich mindestens zwei Nachkommen pro Paar. Da stets einige Kinder/Jungen vor Erreichen des Fortpflanzungsalters sterben oder aus sonstigen Gründen keine eigenen Nachkommen hinterlassen werden, ist eine Sicherheitsreserve aus zusätzlichen Nachkommen erforderlich, wodurch sich eine natürliche Tendenz zum Populationswachstum ergibt. Alles in der Natur ist folglich auf Wachstum programmiert (siehe dazu auch die Ausführungen im Abschnitt
Wachstum
auf Seite 125 ).
Unter optimalen ökologischen Bedingungen sollte ein natürliches Reproduktionsinteresse also mindestens auf eine Ersetzung der vorhandenen Individuen und ihrer Gene hinwirken (
Struktur- und Kompetenzerhalt
). Der Mensch ist nun als erste biologische Spezies in der Lage, die Entwicklung von Populationsstärken in ganz engen Grenzen vorzugeben und damit regelrecht zu planen (Mersch 2007a). Dann wären – im Kontrast zur restlichen Natur – sogar kontrollierte Bevölkerungsschrumpfungen beziehungsweise geplante
Strukturveränderungen
vorstellbar.
Individuen müssen nicht notwendigerweise die gleichen Reproduktionsinteressen besitzen, wie die in ihnen wirkenden Gene. Aus Sicht eines Individuums ist die Erbringung der aufwendigen und kräftezehrenden Nachwuchsarbeit alles andere als selbstverständlich; schließlich stirbt es irgendwann, und dann hat es von seinen Kindern nichts mehr. Es könnte sich also stattdessen für ein Leben ohne eigenen Nachwuchs entscheiden und seine zusätzlichen Freiheiten genießen. Die in ihm operierenden Gene hätten dann das Nachsehen. Nüchtern betrachtet haben also vor allem Gene und Populationen ein Interesse an der Reproduktion der Individuen (Reproduktionsinteresse). Damit sich die Individuen als „Überlebensmaschinen“ der Gene oder als „Säulen“ von Populationen trotzdem auf diese für sie kostenintensive Aufgabe einlassen, muss ihr Reproduktionsinteresse ein biologisches Fundament besitzen, welches für eine optimale Vertretung der Interessen von Genen und Populationen sorgt.
Offenbar erfolgt dies zu erheblichen Anteilen über die sexuelle Lust, denn seitdem es moderne Verhütungsmittel gibt, lassen sich Paarungsund Reproduktionserfolg präzise voneinander trennen: Das Reproduktionsinteresse wird dann zu einer ökonomisch abschätzbaren Größe, die sich der Konkurrenz anderer Interessen des Individuums stellen muss. Auch dieser Zusammenhang macht deutlich, dass die Annahme eines populationsweiten einheitlichen Reproduktionsinteresses keineswegs selbstverständlich ist und im Rahmen einer Systemischen Evolutionstheorie explizit getroffen werden muss 91 .
Lebewesen (Entsprechendes gilt für soziale Systeme wie Gesellschaften, Unternehmen oder Organisationen) geht es zunächst um den reinen Selbsterhalt. Irgendwelche sachlichen Ziele sind demgegenüber sekundär (Simon 2007a: 29).
Individuen (Systeme) befinden sich dabei mit ihren jeweiligen Umwelten in einer ständigen Interaktion, wodurch sich auf beiden Seiten Strukturveränderungen ergeben können. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer strukturellen Kopplung zwischen System und Umwelt (Maturana 1990: ff.).
Beispielsweise lebte der Mensch über die längste Zeit seiner Geschichte als Jäger und Sammler. Als es in einigen Regionen der Erde zu einer
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