Evolution, Zivilisation und Verschwendung
erschöpfen, woraus sich weitere Gründe für den Zwang zur fortlaufenden Erneuerung eigener Kompetenzen beziehungsweise Adaptionen ergeben.
Es soll an dieser Stelle aber noch einmal betont werden, dass Evolution bereits maßgeblich durch die Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen der Individuen und dem sich daraus ergebenden Zwang zur permanenten Erneuerung von sich im Wettbewerb mit anderen immer wieder entwertenden Lebensraum-Kompetenzen entsteht. Bei einfacheren Lebewesen mag ein solcher Kompetenzerhalt ausschließlich durch Fortpflanzung und Vererbung, beim Menschen dagegen durch die Weitergabe von Genen, Wissen und Kultur und sonstige Lernprozesse und bei Unternehmen vielleicht vor allem durch Forschung & Entwicklung erfolgen. Gemeinsam ist allen diesen Fällen der in den Individuen verankerte Willen zu leben und zu überleben, nicht aber ein Survival of the Fittest und schon gar nicht Mord und Totschlag. Evolution findet statt, weil sich Individuen selbsterhalten und reproduzieren wollen.
Das Kriterium
Reproduktionsinteresse
hätte eigentlich präziser
Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse
heißen müssen, denn die Selbsterhaltungsinteressen sollten ja gleichfalls nichtnegativ mit der relativen Fitness der Individuen in Bezug auf ihren Lebensraum korrelieren.
Ein moderner Mensch könnte beispielsweise eine sehr hohe Intelligenz besitzen, dann aber nichts in seine Aus- und Weiterbildung investieren.
Anders gesagt: Er würde seine Kompetenzen nicht erneuern und sein Potenzial verkümmern lassen. In der Folge könnte er vielleicht nicht so viele Ressourcen erlangen, wie er für sein Überleben benötigt. Sein Selbsterhalt wäre dann gefährdet. Vorhandene Kompetenzen bedürfen folglich der ständigen Erneuerung, sonst sind sie irgendwann nichts mehr wert 84 .
Bei Populationen, die etwa aus lauter sozialen Systemen bestehen, kennen die Individuen aber – anders als bei den Lebewesen – keinen separaten Fortpflanzungsvorgang. Wie bereits gezeigt wurde, fallen in solchen Fällen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse zusammen. Ich habe aus diesem Grunde auf eine eigenständige Benennung und Hervorhebung eines
Prinzips Selbsterhaltungsinteresse
verzichtet. Auch vermute ich, dass sich in Populationen im Mittel immer ein kompetenzneutrales Selbsterhaltungsinteresse durchsetzen wird 85 86 . Beim Reproduktionsinteresse von Lebewesen scheint das aber keineswegs der Fall zu sein, wie moderne menschliche Gesellschaften zeigen. Denn offenbar hat die Natur den Individuen ein Reproduktionsinteresse mitgegeben, welches sich unter bestimmten Gegebenheiten auch wieder abschalten beziehungsweise deutlich mindern lässt. Dies macht Sinn, denn der Selbsterhalt dient vor allem dem Individuum selbst, die Reproduktion dagegen anderen (eventuell sogar in erster Linie der Population insgesamt). Selbsterhalt ist vom Wesen her egoistisch, Fortpflanzung dagegen altruistisch.
Im Grunde hätte man zu den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie auch noch ein Kriterium der kompetenzneutralen Mutagenität aufnehmen können, denn auch die unterschiedliche Mutagenität der Individuen kann einen erheblichen Einfluss auf die spätere evolutionäre Entwicklung nehmen. Allerdings dürfte die Mutagenität in biologischen Populationen zwar durchaus artspezifisch und oftmals auch geschlechtsspezifisch sein (siehe dazu den Abschnitt
Wozu gibt es Sexualität?
aufSeite → ), dennoch ist nicht davon auszugehen, dass sie innerhalb der gleichen Population (der gleichen Spezies) systematisch positiv oder negativ mit der jeweiligen Adaption an den Lebensraum korreliert. In Populationen aus lauter Organisationssystemen (siehe zum Beispiel den Abschnitt
Technische Evolution
auf Seite → ) oder sonstigen Systemen, die sich innerlich reproduzieren (siehe den folgenden Punkt), mag das aber ganz anders aussehen. Hier ist durchaus vorstellbar, dass es zu einem regelmäßigen Aufstieg und Fall von Individuen kommt, da einige Individuen so komplex und unbeweglich geworden sind, dass sie sich selbst kaum mehr verändern können. Dies könnte in der Unternehmenswelt auch gerade die Unternehmen betreffen, die aktuell eine dominante Marktposition innehaben, und von daher eigentlich besonders gut an die Marktverhältnisse adaptiert sind.
Der Begriff
Reproduktionsprozess
ist bewusst sehr weit gefasst und bedarf möglicherweise einer zusätzlichen Erläuterung (siehe dazu auch die Ausführungen im Abschnitt
Selbsterhaltende Systeme
auf Seite → )
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