Evolution, Zivilisation und Verschwendung
besitzen, scheiden sie als Gegenstand der Evolution von vornherein aus, ganz im Gegensatz zu den Lebewesen oder den Organisationssystemen wie etwa Unternehmen. Eine Diskussion über die Evolution wissenschaftlicher Hypothesen erübrigt sich folglich von selbst. Bei der versuchten Zuweisung einer „wissenschaftlichen Hypothese“ zum Evolutionsobjekt „Individuum“ handelt es sich dann nämlich – softwaretechnisch gesprochen – um einen Programmierfehler.
Im Grunde handelt es sich hierbei um den entscheidenden Paradigmenwechsel gegenüber anderen Evolutionstheorien, aber auch manchen Vorstellungen von dem, was das Leben ausmacht:
Lebewesen besitzen Intentionen
.
Sie verfolgen Eigeninteressen
, und dabei geht es ihnen in erster Linie um den eigenen Selbsterhalt und die Fortpflanzung. Nicht ihre Gene sind egoistisch,sondern sie selbst, und das vor allem zeichnet sie gegenüber unbelebter Materie aus (siehe dazu auch den Abschnitt
Was ist Leben?
auf Seite → ).
Und damit komme ich nun wirklich zur schon lange angekündigten Formulierung der Systemischen Evolutionstheorie.
Die Prinzipien der
Systemischen Evolutionstheorie
sind:
Eine Population besteht aus lauter selbsterhaltenden Systemen (Individuen), die sich allesamt voneinander unterscheiden, und die unterschiedlich gut an den Lebensraum 73 angepasst sind (beziehungsweise die unterschiedliche Kompetenzen in Bezug auf ihren Lebensraum besitzen) 74 .
Dieses Prinzip heißt
Variation
.
Die reproduktionsfähigen Individuen der Population besitzen (eventuell unterschiedlich starke)
Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen
. Die Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen korrelieren nicht negativ mit der relativen Fitness in Bezug auf den Lebensraum. Anders gesagt: Die Individuen wollen „überleben“ 75 , und zwar die fitteren im Durchschnitt mindestens genauso stark wie die weniger fitten 76 . Der Begriff der Fitness bezieht sich dabei auf den jeweiligen Lebensraum.
Dieses Prinzip heißt
Reproduktionsinteresse
oder auch
natürliches Reproduktionsinteresse
77 78 .
Es existieren variationserhaltende Reproduktionsprozesse, die die Systemstrukturen von Individuen (
Strukturerhaltung
) und deren Kompetenzen in Bezug auf den Lebensraum (
Adaption
) neu erzeugen, modifizieren oder kopieren (replizieren) können, wobei das Ergebnis von Modifikation und Kopie gegenüber dem Ausgangszustand zwar irgendwie verändert ist, in der Regel aber auch erkennbare Ähnlichkeiten 79 aufweist. Im Allgemeinen gilt: Individuen, die relativ gesehen mehr in ihre Reproduktion investieren, werden ihre Strukturen und Kompetenzen im Mittel eher erhalten oder gar verbessern als Individuen, die weniger investieren.
Dieses Prinzip heißt
Reproduktion
.
Die Kernaussage der Systemischen Evolutionstheorie ist nun: Wenn die drei Prinzipien
Variation
,
Reproduktionsinteresse
und
Reproduktion
gegeben sind, dann ist Evolution zwangsläufig die Folge.
Anmerkungen:
Die Systemische Evolutionstheorie kommt ohne die Begriffe
natürliche Selektion
(
natürliche Auslese
) und
Kampf ums Dasein
(
struggle for life
) aus. Im Vordergrund steht das jeweilige
Reproduktionsinteresse
(und nicht der
Reproduktionserfolg
wie bei Darwin), also der Wille des Individuums, zu
überleben
. Evolution ist folglich kein Ergebnis des
Überlebens der Tauglichsten
, sondern sie wird durch Interessen vorangetrieben. Damit wird dann auch ein stärkerer Bezug zu Systemeigenschaften des Lebens hergestellt. Denn dem Begriff der
natürlichen Selektion
haftet zunächst etwas Mechanisches an, zumal er nicht hinreichend deutlich macht, warum sich eine Selektion auf Lebendes beschränken sollte.
Einen
Selbsterhaltungs
- und
Überlebenswillen
(ein
Selbsterhaltungs
und
Reproduktionsinteresse
) besitzen aber nur lebende Organismen unddie durch sie gebildeten sozialen Systeme 80 . Die Kriterien Variation und Reproduktionsinteresse grenzen selbstständige Evolutionsprozesse folglich auf
biologische Phänomene
(Maturana/Varela 1990: 60) ein. Daraus ergibt sich unmittelbar: Weder Gene, Meme, Entscheidungen, Handlungen, Praktiken, Theorien, Hypothesen, Augen, Ohren, Mobiltelefone noch sonstige nichtbiologische Phänomene können
Gegenstand der Selektion
sein.
Wie noch gezeigt wird, kann es in einem präzisen Sinne auch keine
Evolution der Technik
(Neirynck 2006) geben. Was in diesem Zusammenhang evolviert, sind nicht wirklich Technologien, sondern die sie konstruierenden und nutzenden Lebewesen beziehungsweise sozialen Systeme. Denn
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