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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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durch die große Entfernung von einem blauen
Dunstschleier verhüllt wurde, vermochte er sogar von hier aus zu
sehen, wie üppig die Insel war: Vegetation quoll aus jeder
Felsspalte und zog sich fast bis zum Meer herunter. Und es waren
Leute dort: dünne, große Leute, die wie huschende Schemen
über den Strand und die Hügel rannten.
    Dort wären er und seine Leute in Sicherheit, sagte er sich.
Auf einer Insel wie dieser, auf einem eigenen Stück Land,
könnten sie von Fremden unbehelligt für immer leben. Wenn
er dorthin gelangen könnte, wäre er vielleicht imstande,
diesen dürren Leuten ihr Land streitig zu machen.
    Falls er dorthin gelangte. Aber die Leute vermochten nicht
wie Delphine zu schwimmen, und sie vermochten auch nicht wie Insekten
übers Wasser zu laufen. Es war ein Ding der
Unmöglichkeit.
    Sie saßen hier fest.
    Zumal sie überhaupt nicht vorgehabt hatten, so weit zu gehen.
Sie hatten ihre Wanderung nicht geplant. Sie waren einfach gezwungen
gewesen, immer weiter zu wandern, während die Jahre vergangen
waren.
    Kieselsteins Art war von Natur aus sesshaft; in einer
überfüllten Welt war diesen robusten Leuten die Wanderlust
von Weit längst abhanden gekommen. Es war für sie eine
große Belastung gewesen, dass es sie in diese unbekannten
Landstriche verschlagen hatte: Für Kieselstein hatte der lange
Marsch einen langsamen körperlichen Abbau bedeutet, und er
wäre darüber fast verrückt geworden.
    Unterwegs waren die Kinder herangewachsen. Kieselstein selbst war
zum Mann geworden, und ihre Zahl war langsam angestiegen, als immer
mehr Flüchtlinge vor der einen oder anderen Katastrophe sich
ihnen anschlossen. Kieselstein war Vater geworden. Er hatte sich mit
Grün gepaart, der melancholischen Frau, die mit ihnen aus der
alten Siedlung geflohen war. Bei der Durchquerung eines besonders
heißen und trockenen Lands war das Kind aber gestorben.
    Und sie hatten noch immer keinen Platz gefunden, an dem sie leben
konnten. Denn die Welt war voller Leute.
    Vorm Angriff hatte Kieselsteins Großfamilie aus zwölf
Leuten bestanden. Sie waren autark, sie trieben keinen Handel und sie
unternahmen auch kaum Reisen zu Zielen, die weiter als ein
Tagesmarsch entfernt waren.
    Dennoch waren sie sich immer der Gegenwart ähnlicher Gruppen
bewusst gewesen, die sesshaft wie Bäume überall in der
Landschaft verstreut waren.
    Alles in allem waren es über vierzig Stämme gewesen, die
den großen Clan ausmachten, dem Kieselsteins Leute
angehörten – ungefähr tausend Leute. Manchmal fand
auch ein Austausch statt, wenn Jugendliche aus einem ›Dorf‹
in einem anderen Paarungsgefährten suchten. Und gelegentlich kam
es auch zu Konflikten, wenn zwei Parteien sich um Jagdgründe
oder eine bestimmte Jagdbeute stritten. Solche Vorfälle wurden
jedoch in der Regel durch einen Box- oder Ringkampf entschieden und
schlimmstenfalls durch einen Speer ins Bein. Diese Verstümmelung
hatte sich zu einer rituellen Bestrafung entwickelt.
    Und jeder Einzelne aus diesem tausendköpfigen Verband, vom
Neugeborenen bis zum runzligen fünfunddreißigjährigen
Greis, war mit den charakteristischen roten oder schwarzen
senkrechten Streifen verziert, die Kieselstein noch immer im Gesicht
hatte.
    Weit hätte gestaunt, wenn sie gesehen hätte, welche
Blüten das zufällig von ihr benutzte Ocker nun trieb. Was
als halbbewusste sexuelle List begonnen hatte, war über
gewaltige Zeiträume eine Zelebrierung der Fruchtbarkeit
geworden. Frauen und sogar ein paar Männer bemalten die Beine
mit der charakteristischen Farbe der Fruchtbarkeit. Und im Lauf der
Zeit hatten trübe Hirne und ungelenke Finger mit neuen
Markierungen, neuen Symbolen experimentiert.
    Inzwischen erfüllten diese krakeligen Symbole jedoch einen
Zweck. Kieselsteins senkrechte Streifen waren eine Art Uniform, mit
der sich sein Volk gegenüber anderen abgrenzte. Man musste nicht
mehr jedes Mitglied der Gruppe persönlich kennen, was Capo in
seiner Eigenschaft als Rottenführer noch hatte leisten
müssen. Man musste sich keine Gesichter mehr merken. Alles, was
man brauchte, war das Symbol.
    Die Symbole einten die Clans. In gewisser Weise waren es die
Symbole, für die sie kämpften. Diese
unregelmäßigen Streifen und Körpermarkierungen waren
der Beginn der Kunst – und sie waren zugleich der Ursprung der
Nationen, der Ursprung des Krieges. Sie machten Konflikte
möglich, die sogar den Tod derjenigen überdauerten, die sie
begonnen hatten. Deshalb wurden die Hominiden durch die

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