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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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viel effizientere Art der
Werkzeugfertigung, auch wenn sie primitiver anmutete.
    Zumal diese neue Methode viel mehr kognitive Schritte erforderte
als die alte. Man musste in der Lage sein, das richtige
Ausgangsmaterial auszuwählen – nicht jeder Stein war
gleichermaßen geeignet –, und man musste über eine
dynamische Sehfähigkeit verfügen, bei der man nicht nur die
Axt im Stein sah, sondern auch die Schneiden, die vom Kern abgeschert
wurden.
    Nach dem Essen gingen die Leute anderen Verrichtungen nach. Die
Frau Grün gerbte ein Stück Antilopenleder, indem sie darauf
herumkaute und es zwischen den Zähnen hindurch zog. Sie war eine
Expertin im Gerben von Tierhäuten, wovon die verschlissenen und
abgebrochenen Zähne kündeten. Die kleineren Kinder wurden
nun müde. Sie versammelten sich im Kreis und kämmten sich,
wobei sie sich mit den kleinen Händen gegenseitig durchs
verfilzte Haar fuhren. Hände versuchte, Hyänes Wunde zu
versorgen. Er inspizierte sie unter dem Breiumschlag, roch daran und
deckte sie wieder mit dem Umschlag zu.
    Staub war erschöpft, wie so oft dieser Tage, und hatte sich
schon neben ihrem Feuer hingelegt. Aber sie war wach, und ihre Augen
glänzten. Kieselstein verstand. Sie vermisste Plattnase, ihren
›Mann‹.
    Die Leute hatten einen Preis für die immer
größeren Gehirne ihrer Kinder gezahlt. Kieselstein war bei
der Geburt völlig hilflos gewesen. Sein Gehirn musste sich erst
noch voll entwickeln, und es lag eine lange Zeit des Wachsens und
Lernens vor ihm, bevor er aus eigener Kraft zu überleben
vermochte. Die Unterstützung der Großmütter reichte
nicht mehr aus. Eine neue Lebensweise musste sich entwickeln.
    Eltern mussten ihren Kindern zuliebe zusammenbleiben: Das war zwar
noch keine Monogamie, aber schon sehr nah dran. Die Väter hatten
gelernt, dass sie zur Sicherheit in der Nähe bleiben mussten,
wenn sie ihr genetisches Erbe an künftige Generationen
weitergeben wollten. Die Ovulation der Frauen fand nun im Verborgenen
statt, und sie waren fast immer empfängnisbereit. Das war eine
Verlockung: Wenn ein Mann in die Aufzucht eines Kinds investieren
sollte, musste er sich sicher sein, dass es auch wirklich sein Kind war – und wenn er nicht wusste, wann seine Partnerin
fruchtbar war, musste er in der Nähe sein, wenn es soweit
war.
    Aber es beruhte nicht alles auf Zwang. Paare zogen Sex in der
Privatsphäre vor, sofern die in einer so engen und kleinen
Gemeinschaft überhaupt möglich war. Sex war ein sozialer
Kitt geworden, der Paare zusammenhielt. Die gnadenlose Selektion des
Pleistozän formte alles, was die Menschheit ausmachen
würde. Sogar die Liebe war ein Nebenprodukt der Evolution.
Liebe, und der Schmerz des Verlustes.
    Aber die Formung war nicht vollständig. Die sprunghafte
Unterhaltung in dieser Hütte war nicht viel mehr als Tratsch.
Werkzeugfertigung, Nahrungssuche und andere Tätigkeiten waren
noch immer vom Bewusstsein abgetrennt und waren in – immerhin
großen – Schubladen sortiert. Und sie kämmten sich
noch immer wie Menschenaffen.
    Sie waren keine Menschen.
    Kieselstein war gereizt, unruhig und fühlte sich beengt. Er
entriss Robbe eine Scheibe Nashornfleisch, der laut protestierte:
»Mir, mir!« Dann setzte er sich allein in den Eingang der
Hütte und schaute aufs Meer hinaus.
    Sein Blick schweifte über das karge Land, wo die Leute
Erbsen-, Bohnen- und Manioksträucher von Unkraut befreit hatten.
Und dahinter wurde der Himmel im Norden und Westen von einem
Sonnenuntergang angestrahlt, dessen purpurn-rosiges Licht die
Flächen seines Gesichts konturierte. Es war ein wundervoller
Eiszeit-Sonnenuntergang. Die Gletscher, die die nördlichen
Kontinente abschmirgelten, hatten riesige Mengen Staub in die
Atmosphäre befördert, sodass das Sonnenlicht von
großen Wolken aus gemahlenem Gestein gefiltert wurde.
    Kieselstein fühlte sich gefangen wie einer von Robbes
Fischen, der am Spinnennetz festklebte.
    Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, tastete er den Boden
nach einem Gesteinssplitter ab. Als er einen gefunden hatte, der
scharf genug war, führte er ihn zum linken Arm – wobei er
nach einer Stelle suchen musste, die noch nicht vernarbt war –,
presste den Stein gegen das Fleisch und genoss den köstlich
prickelnden Schmerz.
    Er wünschte sich, sein Vater wäre hier, damit sie sich
gemeinsam ritzen konnten. Wenigstens hatte er den Stein, und der
Schmerz war beinahe tröstlich, wenn er in die Haut schnitt. Er
schnitt sich mit der Steinklinge den

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