Evolution
Schuldgefühl rannte er los.
Doch er kam nicht weit. Seine Mutter hatte ihn an der Taille
festgehalten. Auch wenn sie hinkte, war sie immer noch stärker
als er, und sie schaute ihn plappernd an. »Dumm! Dumm!«
Für einen Moment wurde Kieselstein wieder klar im Kopf. Nackt
und unbewaffnet wie er war, wäre er sofort getötet
worden.
Ein Mann kam aus der Siedlung gerannt. Er war nackt und hatte
einen Stoßspeer. Er war Kieselsteins Onkel und stürzte
sich auf den Mörder seines Bruders. Der Fremde wehrte den ersten
Schlag ab, doch der Gegner riss ihn um. Die beiden gingen zu Boden,
rangen miteinander und versuchten jeweils den entscheidenden Schlag
oder Stoß anzubringen. Bald waren sie in einer Staubwolke
verschwunden. Sie waren zwei Muskelpakete, die sich mit aller Kraft
bekämpften. Es war wie ein Kampf zwischen zwei Bären.
Und nun quollen immer mehr Jäger über die Felskante und
aus dem Wald. Männer und Frauen gleichermaßen, alle mit
Speeren und Äxten bewaffnet. Sie waren schmutzverkrustet, mager
und hatten einen harten Blick. Sie waren über Kieselstein und
seine Gruppe gekommen, als sei sie eine ahnungslose
Antilopenherde.
Kieselstein sah die Verzweiflung in den Augen der anderen. Diese
Neuankömmlinge waren genauso wenig Nomaden oder
instinktgetriebene Eroberer, wie Kieselsteins Leute welche gewesen
wären. Nur eine schlimme Katastrophe konnte sie dazu veranlasst
haben, auf Wanderschaft zu gehen, sich in ein neues, unbekanntes Land
zu wagen und diesen plötzlichen Krieg zu führen. Doch wo
sie nun einmal hier waren, würden sie auf Leben und Tod
kämpfen, denn sie hatten keine andere Wahl.
Plötzlich ertönte ein Geheul. Der Jäger, der mit
seinem Onkel gekämpft hatte, war wieder aufgestanden. Ein Arm
baumelte blutig und gebrochen herab. Aber er grinste – der Mund
war eine blutige Masse mit ausgeschlagenen Zähnen. Kieselsteins
Onkel lag mit aufgeschlitzter Brust auf dem Boden.
Kieselsteins Leute hatten bereits zwei der drei Männer
verloren: Plattnase und seinen Bruder. Sie standen auf verlorenem
Posten.
Die Überlebenden ergriffen die Flucht. Es blieb ihnen keine
Zeit, etwas mitzunehmen; keine Werkzeuge, keine Nahrung und nicht
einmal die Kinder. Und die Jäger griffen sie auch noch auf der
Flucht an und brachten sie mit dem stumpfen Ende der Speere zu Fall.
Der dritte Mann wurde niedergestreckt. Die Jäger erwischten zwei
Frauen und ein Mädchen, das jünger war als Kieselstein. Die
Frauen wurden zu Boden geworfen, und die jungen Männer zogen
ihnen die Beine auseinander und versuchten sich bei der
Vergewaltigung zuvorzukommen.
Die Übrigen rannten immer weiter, bis die Verfolger
schließlich aufgaben.
Kieselstein schaute den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Die Jäger durchsuchten die Siedlung und gingen dabei auf einem
Boden umher, der seit undenklichen Zeiten Kieselsteins Stamm
gehört hatte.
Dann sah Kieselstein, dass nur noch fünf Dorfbewohner
übrig waren. Zwei Frauen, einschließlich seiner Mutter,
Kieselstein selbst, ein kleineres Mädchen und ein Baby – es
war aber nicht Kieselsteins Schwester. Nur fünf.
Mit versteinertem Gesicht wandte Staub sich an Kieselstein und
legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mann«, sagte sie
bedeutungsschwer. »Du.«
Das stimmte, wie er schreckerfüllt feststellte. Er war das
älteste überlebende Mitglied des Stamms. Von den Fünf
war nur noch das quengelnde Baby im Schmutz zu seinen
Füßen männlichen Geschlechts.
Staub hob das mutterlose Baby auf und drückte es an sich.
Dann kehrte sie der Heimat den Rücken und stapfte Richtung
Norden, wobei sie mit dem hinkenden Gang unregelmäßige
Spuren im Schmutz hinterließ.
Der ebenso verwirrte wie entsetzte Kieselstein folgte ihr.
II
Das Pleistozän, diese Eiszeit, war ein Zeitalter brutaler
Klimaschwankungen. Dürre, Überschwemmungen und Stürme
waren normale Erscheinungen. In dieser Periode ereignete sich eine
›Jahrhundertkatastrophe‹ alle zehn Jahre. Es war eine Zeit
wilder Schwankungen, eine Zeit, in der das Klima Kapriolen
schlug.
Es schuf eine Umwelt, die an alle Tiere, die in ihr lebten, hohe
Anforderungen stellte. Um diese Veränderungen zu
bewältigen, wurden viele Tiere intelligenter – nicht nur
die Hominiden, sondern auch die Raubtiere und die Pflanzenfresser, ob
Huftiere oder andere. Das durchschnittliche Säugetiergehirn
sollte sich in den zwei Millionen Jahren des Pleistozän
verdoppeln.
Die Familie der Hominiden-Spezies, zu der Kieselstein
gehörte, war
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