Evolution
Arm auf und spürte die
Wärme seines Blutes. Er zitterte vor Schmerz, genoss aber seine
kalte Gewissheit. Er wusste, dass er jederzeit aufzuhören
vermochte – und gleichzeitig wusste er, dass er nicht
aufhören würde.
Isoliert, niedergeschlagen und mit dem Gefühl, in einer
Sackgasse zu stecken, hatte Kieselstein sich in sein Schneckenhaus
zurückgezogen. Ein Verhalten, das junge Männer in die Lage
versetzt hatte, ihre Kräfte unblutig zu messen, hatte zu
Vereinsamung geführt und war destruktiv geworden. Die Individuen
von Kieselsteins Art waren noch keine Menschen. Dennoch kannten sie
schon Liebe, Verlust – und Sucht.
Hinter ihm in der Dunkelheit beobachtete seine Mutter ihn mit
umwölkten Augen.
Kieselstein wurde im ersten Morgengrauen geweckt – aber nicht
vom Licht, auch nicht von der Kälte.
Eine Zunge leckte an seinem nackten Fuß. Das war fast
wohltuend und riss ihn aus den schlechten Träumen. Und dann war
er wach genug, um sich zu fragen, was da wohl an ihm
herumschlabberte. Er riss die Augen auf.
Ein struppiger, muskulöser Wolf stand vor ihm. Die Silhouette
zeichnete sich gegen den Morgenhimmel ab.
Mit einem Schrei sprang er auf. Der Wolf winselte erschrocken,
wich ein paar Schritte zurück und drehte sich knurrend um.
Aber jemand stand neben dem Wolf.
Die Gestalt war mindestens eine Handbreit größer als
er. Sie hatte einen schlanken Körper, schmale Schultern und
lange, elegante Beine wie ein Storch. Sie hatte schmale Hüften,
kleine hohe Brüste und einen langen Hals. Ihr Körper war
sehnig und muskulös; er sah die feste Muskulatur der Arme und
Beine. Sie wirkte beinahe wie ein Kind, ein großes, hoch
aufgeschossenes Kind mit einem noch unfertigen Körper. Aber sie
war kein Kind mehr. Das erkannte er an den Brüsten, den
Haarbüscheln unter den Armen und an den feinen Linien um die
Augen und den Mund.
Die dürren Leute auf der Insel sahen so aus – zumindest
vom Hals abwärts. Doch vom Hals aufwärts hatte Kieselstein
so etwas noch nie gesehen.
Ihr Kinn lief in einer Art Spitze aus. Ihre Zähne waren
weiß und ebenmäßig wie die eines Kindes, als ob sie
sie noch nie zum Gerben von Tierhäuten benutzt hätte. Ihr
Gesicht wirkte abgeflacht, die Nase klein und eingedrückt. Sie
hatte pechschwarzes kurzes Haar. Und der Wulst über den Augen
– nun, da war gar kein Wulst. Ihre glatte Stirn ragte senkrecht
auf, und dann wölbte der Schädel sich hoch auf wie eine
Felskuppel; ganz anders als die Schildkröten-Form seiner
Hirnschale.
Sie war ein Mensch – anatomisch ein uneingeschränkt
moderner Mensch. Sie hätte von Joan Usebs aufgeregter Menge auf
dem Flughafen von Darwin durch einen Tunnel in der Zeit hier
herauszutreten vermocht. Aber sie hätte den urtümlichen
Kieselstein auch nicht mehr zu erschrecken vermocht, wenn sie das
getan hätte.
Ihr Blick wanderte von Kieselstein zu den Leuten – zu
Hände, Schrei und den anderen –, die herausgekommen waren,
um zu sehen, was da los war. Sie sagte etwas Unverständliches
und richtete eine Harpune auf Kieselstein.
Kieselstein starrte sie fasziniert an.
Der Schaft der Harpune war am Ende eingekerbt, und in der Kerbe
steckte, mit Harz und fester Schnur befestigt, eine Spitze. Es
handelte sich um einen schlanken Zylinder, der in der Mitte nur
fingerbreit war. An einer Seite ragten feine Widerhaken aus dem
Zylinder. Sie wiesen in die der Flugbahn der Harpune entgegen
gesetzte Richtung. Die Oberfläche war nicht etwa rau wie seine
Werkzeuge – sie war glatt wie Haut.
Und die Harpune war auch nicht ihr einziger Besitz, wie er nun
sah. Sie trug einen Fetzen aus gegerbtem Leder um die Hüfte. Und
ein Ding wie ein Netz, vielleicht aus Ranken geflochten, hing ihr um
den Hals. Darin befand sich eine Kollektion bearbeiteter Steine. Sie
sahen aus wie Feuerstein. Feuerstein war ein schöner Stein und
leicht zu bearbeiten; er war auf seiner Wanderung durch Afrika ein
paar Mal darauf gestoßen. Aber es gab keinen Feuerstein in der
Nähe des Strands. Wie war er also hierher gekommen? Seine
Verwirrung steigerte sich.
Doch dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die
Harpunenspitze. Sie bestand aus Knochen.
Kieselsteins Leute nutzten Knochensplitter als Kratzer oder
Hämmer, um den scharfen Schneiden der Steinwerkzeuge den letzten
Schliff zu geben. Aber sie versuchten nicht, Knochen zu formen. Sie
waren ein schwieriger Werkstoff, umständlich zu handhaben und
neigten dazu, unberechenbar zu splittern. Er hatte noch nie etwas von
einer
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