Evolution
als ob sie wie ein trauriges Kind
getröstet und in den Arm genommen werden wollte. Doch Mutter
blieb mit hartem Gesicht vor ihr sitzen.
Dann ging sie zu ihrer Lagerstatt und kehrte mit einem scharfen
Steinschaber zurück. Sie bedeutete dem Mädchen, den Kopf in
ihren Schoß zu legen, und dann stach Mutter ihr den Stein in
die Wange. Augen schrie auf und wich verwirrt zurück; dann
fasste sie sich an die Wange und schaute entsetzt auf das Blut an den
Fingern. Doch Mutter lockte sie wieder zu sich, bedeutete ihr wieder,
sich hinzuknien und ritzte ihr erneut die Wange auf – diesmal
etwas unterhalb der ersten Wunde. Augen sträubte sich noch
etwas, ließ es aber geschehen. Allmählich nahm der Schmerz
Überhand, und sie erschlaffte.
Als Mutter mit ihrem Werk fertig war, wischte sie das Blut ab,
nahm ein Stück Ocker und rieb den zerbröselnden Stein tief
in die frischen Wunden ein. Augen winselte, als die salzige Substanz
im Fleisch brannte.
Dann fasste Mutter sie an der Hand. »Komm«, sagte sie.
»Wasser.«
Sie führte das widerstrebende und verwirrte Mädchen
durch die apathischen Pflanzenfresser zum See hinunter. Sie wateten
ins Wasser, wobei sie mit den Füßen in den zähen
Schlick des Seebodens einsanken, bis sie knietief im Wasser standen.
Sie blieben still stehen, bis die Wellen sich gelegt hatten und das
trübe Wasser ruhig und glatt vor ihnen lag.
Mutter bedeutete Augen, nach unten auf ihr Spiegelbild zu
schauen.
Augen sah, dass eine hellrote, überm Auge entspringende
Wendel sich über die Wange zog. Es tropfte noch immer Blut aus
der primitiven Tätowierung. Als sie sich Wasser ins Gesicht
spritzte, wurde das Blut abgewaschen, aber die Spirale blieb. Augen
schaute groß und grinste, auch wenn die Wunden durch das
Verziehen des Gesichts noch mehr schmerzten. Nun verstand sie, was
Mutter getan hatte.
Das Tätowieren war eine Technik, die Mutter bereits bei sich
selbst angewandt hatte. Es schmerzte natürlich. Aber es war
schließlich der Schmerz – der Schmerz im Kopf, der Schmerz
wegen des Verlusts von Still –, der den großen
Umwälzungen in ihrem Leben den Weg bereitet hatte. Schmerz war
gut und musste klaglos erduldet werden. Was wäre besser geeignet
gewesen, dieses Kind an sich zu binden?
Hand in Hand gingen die beiden zum Ufer zurück.
Die Zeit verstrich, ohne dass die unbarmherzige Dürre
nachgelassen hätte.
Der See schrumpfte zu einer schlammigen Pfütze inmitten einer
Schüssel aus rissigem Schlamm. Das Wasser wurde durch die
Exkremente und Kadaver der Tiere verunreinigt – aber die Leute
tranken es dennoch, weil sie keine andere Wahl hatten, und viele
litten an Durchfall und anderen Beschwerden. Die Tiere wurden weiter
dezimiert. Aber es gab kaum noch Frischfleisch, und den Leuten
erwuchs eine starke Konkurrenz in den Wölfen, Hyänen und
Katzen.
Die Gruppen aus dünnen und brauenwulstigen Leuten starrten
sich düster an.
Der Erste, der von Mutters Leuten starb, war ein kleiner Junge.
Sein Körper war von der Ruhr ausgezehrt. Seine Mutter weinte
über dem kleinen Leichnam, und dann gab sie ihn ihren
Schwestern, die ihn in den Boden legten. Aber der Boden war trocken
und hart und erschwerte den geschwächten Leuten das Graben. Am
nächsten Tag starb wieder jemand, ein alter Mann. Und am
übernächsten zwei weitere, diesmal zwei Kinder.
Und nun, im Angesicht des Todes, kamen die Leute zu Mutter.
Sie traten an ihre Lagerstatt mit dem glänzenden Schädel
auf dem Pfahl. Sie setzten sich auf den staubigen Boden, schauten auf
Mutter, Augen oder auf die Tiere und geometrischen Figuren, die sie
überall hineingekratzt hatten. Viele von ihnen folgten Mutters
Beispiel und malten sich Spiralen, Wirbel und Wellenlinien auf
Gesichter und Arme. Und sie schauten in Stills Augenhöhlen, als
ob sie dort die Erleuchtung suchten.
Es war eine Frage des wieso. Mutter hatte ihnen zu
erklären vermocht, dass ihr Sohn an einer unsichtbaren Krankheit
gestorben war, für die es nicht einmal einen Namen gab; sie war
in der Lage gewesen, Sauer als die Frau zu ermitteln und zu
bestrafen, die seinen Tod verursacht hatte. Wenn also jemand wusste, wieso diese Dürre sie heimsuchte, dann wäre es
Mutter.
Mutter betrachtete diese Versammlung, wobei ihr Kopf zugleich
unermüdlich arbeitete, Ideen entwickelte und Zusammenhänge
herstellte. Die Dürre hatte eine Ursache; natürlich hatte
sie eine. Und hinter jeder Ursache stand eine Absicht, ein
Bewusstsein, ob man es sah oder nicht. Und wenn es ein
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