Evolution
Bewusstsein
gab, vermochte man mit ihm zu verhandeln. Schließlich hatte ihr
Volk sich bereits seit siebzigtausend Jahren als Händler und
Verhandlungspartner bewährt.
Doch wie sollte sie mit dem Regen verhandeln? Was hatte sie ihm
anzubieten?
Und überlagert wurden solche Überlegungen vom Argwohn
gegen die Leute. Wem vermochte sie überhaupt zu vertrauen? Wer
von ihnen redete hinter ihrem Rücken über sie? Selbst
jetzt, während sie in einer Art verzweifelter Hoffnung zu ihr
aufschauten, verständigten sich nicht ein paar und tauschten mit
Gesten, Blicken und Kritzeleien im Staub geheime Botschaften aus?
Schließlich fand sie die Antwort.
Stier, der große jähzornige Mann, der sie wegen des
Todes von Sauer in die Mangel nehmen wollte, schloss sich der Runde
an. Er war von der Ruhr geschwächt.
Mutter stand plötzlich auf und ging auf ihn zu.
Schössling folgte ihr.
Der geschwächte und kranke Stier saß wie ein
Häufchen Elend bei den anderen im Schmutz. Mutter legte ihm
sachte die Hand auf den Kopf. Er schaute verwirrt auf, und sie
lächelte ihn an. Dann bedeutete sie ihm mit einem Winken, ihr zu
folgen. Stier stand schwerfällig auf und taumelte benommen. Aber
er ließ sich von Schössling zu Mutters Lagerstatt
führen. Mutter bedeutete ihm, sich hinzulegen.
Sie nahm einen hölzernen Speer, dessen verkohlte und
blutverschmierte Spitze durch häufigen Gebrauch gehärtet
war. Sie wandte sich an die Leute und sagte: »Himmel. Regen.
Himmel machen Regen. Erde trinken Regen.« Sie schaute zum
wolkenlosen Himmelszelt auf. »Himmel nicht machen Regen. Zornig,
zornig. Erde trinken viel Regen. Durstig, durstig. Tränken
Erde.«
Und mit einer fließenden Bewegung stieß sie Stier den
Speer in die Brust. Der bullige Mann verkrampfte sich und umklammerte
den Speer. Blut schoss aus dem aufgerissenen Mund, und Urin lief ihm
an den Beinen herunter. Dann drehte Mutter den Speer mit aller Kraft
und hörte die weichen Organe im Innern reißen. Stier
bäumte sich auf und blieb dann reglos auf der Lagerstatt liegen.
Mutter zog lächelnd den Speer heraus. Blut strömte auf den
Boden.
Es herrschte Stille. Selbst Schössling und Augen starrten mit
offenem Mund.
Mutter bückte sich und hob eine Handvoll klebrigen,
blutgetränkten Staub auf. »Schaut! Staub trinkt. Erde
trinkt.« Und dann stopfte sie die Masse ihrem Kind in den Mund
ohne Unterkiefer; die kleinen Zähne färbten sich rot.
»Regen kommt«, sagte sie sanft. »Regen kommt.«
Dann schaute sie grimmig in die Runde.
Einer nach dem andern schlug unter ihrem Blick die Augen
nieder.
Honig, die Tochter von Sauer, brach den Bann. Mit einem Schrei der
Verzweiflung hob sie eine Handvoll Steine auf und warf sie auf
Mutter. Sie prallten harmlos an ihr ab. Dann rannte Honig zum See
hinunter.
Mutter schaute ihr mit hartem Blick nach.
In ihrem Herzen war Mutter von der Richtigkeit ihrer Aussagen und
Taten überzeugt. Dass es einem politischen Zweck gedient hatte,
den armen Stier zu opfern – er war schließlich einer ihrer
größten Widersacher gewesen –, ließ sie
freilich nicht am Glauben an sich und ihre Handlungen zweifeln.
Stiers Tod war nicht nur opportun gewesen, sondern er würde auch
Regen bringen. Ja, genauso war es.
Sie überließ es Schössling, die Leiche
wegzuschaffen und ging in ihre Hütte.
Trotz des Opfers blieb der Regen aus. Die Leute warteten einen
trockenen Tag nach dem andern, und kein Wölkchen erschien am
ausgewaschenen Himmelszelt. Allmählich wurden sie unzufrieden.
Insbesondere Honig lästerte immer offener über Mutter,
Augen, Schössling und die anderen, die zu ihr hielten.
Doch Mutter saß das einfach aus. Sie wähnte sich
nämlich im Besitz der Wahrheit. Es war nur so, dass Stiers Tod
den Himmel und die Erde nicht hinreichend besänftigt hatte. Es
ging nur darum, das richtige Angebot zu machen, mehr nicht. Sie
musste sich nur in Geduld üben, auch wenn sie nur noch Haut und
Knochen war.
Eines Tages kam Augen zu ihr. Sie wurde von Ameisen-Esser
geführt. Obwohl sie ausgemergelt waren, erkannte Mutter, dass
sie sich paaren wollten.
Ameisen-Esser mokierte sich diesmal nicht über sie, sondern
flehte sie geradezu an. Und nun war es auch eine Art von Liebe oder
Mitleid auf Seiten des jungen Mannes, denn die primitive
Tätowierung, die Mutter Augen ins Gesicht geritzt hatte, war
durch das stehende Wasser des Sees infiziert worden. Die Wendel war
unter der nässenden Fleischmasse, zu der die eine
Gesichtshälfte des Mädchens
Weitere Kostenlose Bücher