Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
angeschwollen war, kaum noch zu
sehen.
    Doch Mutter runzelte die Stirn. Diese Paarung wäre nicht
richtig. Sie stand auf und entzog dem betrübten Ameisen-Esser
Augens Hand. Dann ging sie mit dem Mädchen zwischen den
verstreuten Leuten umher, bis sie Schössling fand. Er lag auf
dem Rücken und schaute in den Himmel.
    Mutter drückte Augen neben Schössling in den Schmutz. Er
schaute konsterniert zu Mutter auf. »Du. Du. Ficken.
Jetzt«, sagte Mutter.
    Schössling schaute auf Augen und versuchte sichtlich, seinen
Ekel zu unterdrücken. Obwohl sie bei Mutter viel Zeit zusammen
verbracht hatten, hatte er sich in sexueller Hinsicht nie für
Augen interessiert; auch nicht, als ihr Gesicht noch nicht so schlimm
entstellt war. Und das galt auch für sie.
    Doch nun hielt Mutter den Zeitpunkt für gekommen, dass sie
sich paarten. Ameisen-Esser wäre der Falsche gewesen;
Schössling war der Richtige. Weil Schössling verstand. Sie stand über ihnen, bis Schösslings Hand zur kleinen
Brust des Mädchens gewandert war.
     
    Einen Monat nach Stiers Tod wurden die Leute durch ein lautes,
schrilles Heulen geweckt. Es war Mutter. Verwirrt kamen sie
angerannt, um zu schauen, welche Anwandlung sie nun schon wieder
befallen hatte. Überhaupt fürchteten die meisten sich schon
vor dieser beunruhigenden Frau in ihrer Mitte.
    Mutter kniete neben dem Pfahl, auf den sie den Schädel ihres
Kinds gesteckt hatte. Der Schädel lag zersplittert auf dem
Boden. Mutter wühlte in den Splittern und klagte, als ob das
Kind ein zweites Mal gestorben wäre.
    Augen und Schössling hielten sich zurück und warteten
auf Anweisungen von Mutter.
    Mutter wiegte die kleinen Splitter des zerbrochenen Schädels
in der Hand und ließ zornig den Blick über die Leute
schweifen. Dann stieß sie die rechte Hand vor und zeigte auf
jemanden. »Du!«
    Leute wichen zurück. Köpfe drehten sich und folgten
ihrer Blickrichtung. Mutter deutete auf Honig.
    »Hierher! Kommen, kommen hierher!«
    Honigs Doppelkinn schlotterte vor Angst. Sie wollte sich
davonmachen, aber die Umstehenden hielten sie zurück.
Schließlich trat Schössling vor, packte das Mädchen
am Handgelenk und zerrte sie zu Mutter.
    Mutter warf ihr die Splitter des Schädels ins Gesicht.
»Du! Du werfen Stein. Du zerschmettern Junge.«
    »Nein, nein, ich…«
    »Du machen Regen nicht kommen«, sagte Mutter mit harter
Stimme.
    Honig quiekte entsetzt, als ob das womöglich stimmte, und
Urin rann ihr an den Schenkeln herunter.
    Diesmal musste Mutter sich nicht einmal selbst die Hände
schmutzig machen.
    Es fing auch am nächsten Tag nicht an zu regnen. Auch nicht
am übernächsten. Doch am dritten Tag nach Honigs Opfer
ertönte ein Donnergrollen am wolkenlosen Himmel. Die Leute
kauerten sich in einem uralten Reflex zusammen, der noch aus der Zeit
stammte, als Purga sich in ihrem Bau verkrochen hatte. Doch
schließlich kam der Regen und fiel so heftig, als ob der Himmel
seine Schleusen geöffnet hatte.
    Die Leute rannten lachend umher. Sie legten sich auf den
Rücken und ließen es sich in den Mund regnen, oder sie
wälzten sich auf dem Boden und bewarfen sich gegenseitig mit
Schlamm. Kinder balgten sich, und Babys wimmerten. Und es setzte ein
instinktives lustiges Rudelbumsen ein, um das Ende der Dürre und
den Neubeginn des Lebens zu feiern.
    Mutter saß neben ihrer blutgetränkten Lagerstatt und
betrachtete das alles wohlgefällig.
    Wie immer dachte sie auf mehreren Ebenen gleichzeitig.
    Dass sie Honig geopfert hatte, war wieder ein kluger politischer
Schachzug gewesen. Honig war in diesem Sinn zwar keine Konkurrentin
gewesen, aber ein Unruheherd, ohne den es Mutter leichter fallen
würde, ihre Machtposition zu festigen. Zugleich war dieses Opfer
eindeutig notwendig gewesen. Der Himmel und die Erde waren zufrieden
gestellt; die ersten Götter der Menschheit waren beschwichtigt
und hatten ihre Kinder leben lassen.
    Auf einer wieder anderen Bewusstseinsebene war Mutter sich aber
bewusst, dass der Regen auch ohne ihr Zutun gekommen wäre. Wenn
es nach dem Opfer von Honig nicht geregnet hätte, wäre sie
bereit gewesen, weiterzumachen und die Leute einen nach dem andern zu
opfern – sie hätte ihren Speer sogar in Augens Herz
gestoßen, wenn es hätte sein müssen.
    All dieser Dinge war sie sich gleichzeitig bewusst; sie glaubte
viele widersprüchliche Dinge auf einmal. Das war die Essenz
ihres Genies. Sie lächelte, während das Wasser ihr
übers Gesicht lief.

 
IV
     
     
    Schössling ging langsam am

Weitere Kostenlose Bücher