Evolution
Ferne sah. Aber der
See war so groß, dass man sich aus dem Weg gehen konnte und
nicht ins Gehege kam.
Für eine Weile hatten sie ein gutes Leben. Sie mussten nicht
einmal mehr auf die Jagd gehen; die Pflanzenfresser fielen einfach
um, wo sie standen, und man brauchte nur hinzugehen und sich zu
bedienen. Die Konkurrenz zu anderen Fleischfresser war nicht allzu
groß, denn es gab reichlich für jeden.
Die Leute mussten auch nicht das ganze Tier verwerten: Das Fleisch
beispielsweise eines Elefanten wäre verdorben, ehe sie es
aufgebraucht hätten. Also nahmen sie sich nur die besten
Stücke: den Rüssel, die fettreichen Füße, die
Leber, das Herz und das Knochenmark. Den Rest überließen
sie den Aasfressern. Manchmal machten sie sich auch über ein
Tier her, das noch nicht tot war, aber schon zu schwach, um sich noch
zu wehren. Wenn man es am Leben ließ, war das angeschnittene
Tier ein Frischfleisch-Depot, aus dem jeder sich bedienen konnte,
solang die Beute noch lebte.
Also starben die Tiere und ihr Fleisch wurde verzehrt, die Knochen
wurden verstreut und von den überlebenden Artgenossen zertreten,
bis der schlammige Rand, der den schrumpfenden See säumte, von
weißen Splittern glitzerte.
Aber noch war die Dürre keine Katastrophe für die Leute.
Noch nicht.
Mutter war zum See gegangen. Welcher bemerkenswerten inneren Spur
sie jetzt auch folgte, sie musste immer noch essen und am Leben
bleiben, und das würde ihr nur als Teil der Gruppe gelingen.
Aber das Leben wurde unmerklich leichter für sie.
Kein einziger Grashalm vermochte im Umkreis dieses Schlammlochs zu
gedeihen. Mit anhaltender Dürre vernichten die Elefanten und
andere Tiere die Bäume in einem immer größeren
Radius, sodass die Leute auf der Suche nach Brennholz und Material
für Lagerstätten und Hütten immer weiter
ausschwärmen mussten.
Mutter bekam Hilfe bei diesen Arbeiten. Augen, das Mädchen
mit dem intensiven Blick, auf das Stills Schädel einen solchen
Eindruck gemacht hatte, brachte Mutter Holz. Ihre dünnen Arme
waren mit dem kratzigen, vertrockneten Zeug beladen. Mutter nahm die
Gaben ohne Kommentar an. Später ließ sie es dann zu, dass
Augen sich zu ihr setzte und zuschaute, wie sie ihre Zeichen in den
Boden kratzte. Nach einer Weile tat Augen es ihr zaghaft nach.
Einer der jüngeren Männer hatte sich in Augens Nähe
herumgetrieben. Er war ein langfingriger Junge mit einer seltsamen
Vorliebe für Insekten. Dieser Junge, Ameisen-Esser,
verhöhnte Mutter und versuchte Augen wegzuziehen. Doch Augen
wollte nicht.
Dann rammte Mutter einen langen, geraden Schössling in den
Boden und steckte Stills Schädel darauf. Als Ameisen-Esser
wieder um Augen herumscharwenzeln wollte, schaute er direkt in
Sülls leere Augen und trollte sich wimmernd.
Wo der Schädel fortan Tag und Nacht über sie wachte,
schien Mutter noch an Macht und Autorität zu gewinnen.
Bald brachte ihr nicht mehr nur Augen Holz und Wasser, sondern
auch ein paar andere Frauen. Und wenn sie zum See hinunterging,
machten ihr sogar die Männer widerwillig Platz und ließen
ihr den Vortritt, das jüngste Opfer der Dürre
anzuschneiden.
Das geschah natürlich alles wegen Still. Ihr Sohn half ihr
auf eine subtile, ruhige Art und Weise, die seinem Charakter
entsprach. Aus Dankbarkeit legte sie seine Lieblingsspielsachen um
die Stange: Katzengold-Brocken und den knorrigen Ast. Sie stellte ihm
sogar Nahrung hin – Fleisch von Elefantenkälbern, weich
gekocht und von seiner Mutter vorgekaut, wie er es als kleines Kind
so gern gehabt hatte. Jeden Morgen war das Fleisch verschwunden.
Sie war aber keine Närrin. Sie wusste, dass Still im streng
körperlichen Sinn nicht mehr lebte. Aber er war nicht tot. Er lebte auf eine andere, nicht mit Händen zu greifende Art
und Weise weiter. Vielleicht steckte er in den Tieren, die das Essen
fraßen, das sie ihm hinlegte. Vielleicht war er in der
Lagerstatt, auf die sie sich bettete. Vielleicht lebte er in den
Herzen der Leute weiter, die ihr Nahrung brachten. Es spielte keine
Rolle, wie er da war. Es genügte, wenn sie wusste, dass
der Tod nur eine Phase war: wie die Geburt, das Sprießen der
Körperbehaarung, der Verfall des Alters. Man brauchte keine
Angst vor ihm zu haben. Der Schmerz, an dem sie gelitten hatte, war
verschwunden. Wenn sie im Dunklen allein auf der Lagerstatt lag,
fühlte sie sich Still so nah wie damals, als er als Baby an
ihrer Brust genuckelt hatte.
Sie war auf jeden Fall schizophren, und vielleicht war sie
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