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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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auch
vollkommen verrückt geworden. Aber wer hätte das schon
sagen wollen; auf der ganzen Welt gab es nur eine Handvoll Leute wie
Mutter, nur ein paar Köpfe, die mit einem solchen Licht
erfüllt waren, und wer hätte überhaupt eine Diagnose
stellen wollen.
    Aber verrückt oder nicht, sie war so glücklich, wie sie
es seit langem nicht mehr gewesen war. Und selbst in dieser Zeit der
Dürre nahm sie zu. Unter dem Gesichtspunkt des Überlebens
war sie erfolgreicher als ihre Artgenossen.
    Ihr Wahnsinn – falls es Wahnsinn war – half ihr bei der
Anpassung.
    Und eines Tages wartete Augen mit etwas Neuem auf.
    Augen malte neue Muster auf ein Stück Elefantenhaut. Zuerst
waren sie primitiv, ein bloßes Gekritzel aus Ocker und
Ruß auf einer staubigen Tierhaut. Augen ließ sich aber
nicht entmutigen und versuchte, das in Ocker auf dem Leder
abzubilden, was sie in ihrem Kopf sah. Während Mutter sie
beobachtete, wurde sie an sich selbst erinnert, an die schmerzlichen
früheren Zeiten, als sie versucht hatte, die seltsamen Inhalte
aus dem Kopf zu verdrängen.
    Und dann verstand sie, was Augen vorhatte.
    Auf dieses Stück Elefantenhaut malte Augen ein Pferd. Es war
ein einfaches, fast kindliches Bild mit krakeligen Linien und
verzerrter Anatomie. Aber es war nicht etwa eine abstrakte Figur wie
Mutters Parallelen und Spiralen. Dies war definitiv ein Pferd: Da war
der elegante Kopf, der fließende Hals und die wirbelnden Hufe
darunter.
    Für Mutter war das wieder ein Schlüsselerlebnis, ein
Moment, wo neue Verbindungen hergestellt und ihr Kopf neu
konfiguriert wurde. Mit einem Schrei ließ sie sich auf den
Boden fallen und suchte nach ihrem Ocker und Holzkohle. Erschrocken
zuckte Augen zurück; sie befürchtete, etwas falsch gemacht
zu haben. Doch Mutter schnappte sich nur ein Stück Leder und
kratzte und kritzelte, wie Augen es ihr vorgemacht hatte.
    Sie spürte den ersten kribbelnden Anflug der Migräne im
Kopf. Aber sie arbeitete trotz der Schmerzen weiter.
    Bald hatten Augen und Mutter die Flächen um sich herum,
Felsbrocken, Knochen, Tierhäute und selbst den trockenen Staub
mit hastigen Zeichnungen springender Gazellen und langhalsiger
Giraffen verziert, mit Elefanten, Pferden und Antilopen.
    Als andere Leute sahen, was Mutter und Augen taten, waren sie
sofort davon fasziniert und versuchten, es ihnen nachzutun.
Allmählich breitete die neue Bildkunst sich aus, und durch die
ganze kleine Gemeinschaft sprangen ockerfarbene Tiere und flogen
rußige Speere. Es war, als ob die Welt mit einer neuen Schicht
aus Leben überzogen worden wäre, mit einer Schale des
Bewusstseins, die alles veränderte, was sie berührte.
    Für Mutter bedeutete das einen Machtzuwachs. Nachdem sie
erkannt hatte, dass die Figuren, die sie in ihrem Kopf sah,
Entsprechungen in der Außenwelt hatten, wurde es ihr bewusst,
dass sie im Brennpunkt des globalen Geflechts aus Kausalität und
Kontrolle stand: Als ob das Universum aus Leuten und Tieren, Felsen
und Himmel nur eine Abbildung dessen sei, was in ihrer Vorstellung
enthalten war. Und nun eröffnete sich ihr mit dieser neuen
Technik von Augen eine neue Möglichkeit, diese Kontrolle, diese
Verbindungen auszudrücken. Wenn sie das Bild des Pferdes in
ihren Kopf einfror und es dann auf einen Felsen oder eine Tierhaut
übertrug, wurde sie gleichsam zu seiner Besitzerin – auch
wenn das Tier frei über die trockenen Ebenen lief.
    Viele Leute fürchteten sich vor den neuen Bildern und
denjenigen, die sie anfertigten. Mutter hatte jedoch eine so starke
Stellung erlangt, in der sie nicht mehr angreifbar war; der leere
Blick des Schädels auf dem Pfahl war eine wirkungsvolle
Abschreckung. Doch Augen, ihre engste Jüngerin, war ein
leichteres Ziel.
    Eines Tages kam sie weinend zu Mutter. Sie war über und
über mit Schlamm besudelt, und die komplizierten Muster, die sie
sich auf die Haut gemalt hatte, waren verschmiert und abgewaschen
worden. Auges sprachliche Fähigkeiten waren bescheiden
geblieben, und Mutter musste sich auf ihr weitschweifiges
Kauderwelsch konzentrieren, bis ihr klar wurde, was geschehen
war.
    Es war Ameisen-Esser gewesen, der Junge, der Interesse an Augen
gezeigt hatte. Er hatte ihr wieder nachgestellt, und als sie
ihrerseits kein Interesse an ihm gezeigt hatte, hatte er sich ihr
aufzudrängen versucht. Aber sie wehrte sich. Also zerrte er sie
zum See und warf sie ins Wasser, wo er sie mit Schlamm beschmierte
und die Muster von der Haut zu entfernen versuchte.
    Augen schaute Mutter an,

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