Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
sie den starrenden
Blick des Schädels als anklagend empfände. Sie war eine
dünne Vierzehnjährige mit großen Augen und einer
intensiven Ausstrahlung. Dieses Mädchen, Augen, hatte sich die
Oberarme mit einem besonders kunstvollen Wendeldesign in Ocker
verziert. Mutter beschloss, der Kleinen in Zukunft mehr
Aufmerksamkeit zu widmen.
    Ein Mann trat vor. Er war ein bulliger Typ, reizbar wie ein in die
Enge getriebener Stier. Stier deutete also auf Sauers Behausung.
»Tot«, sagte er und wies mit seiner Axt auf Mutter.
»Du. Kopf, Stein. Wieso?«
    Obwohl sie die Lage noch unter Kontrolle hatte, wusste Mutter,
dass von dem, was sie nun sagte, ihre ganze Zukunft abhing. Wenn sie
aus dem Lager ausgestoßen wurde, würde sie nicht lang
überleben.
    Aber sie war zuversichtlich.
    Sie schaute auf den Schädel und lächelte. Dann deutete
sie auf Sauers Verschlag. »Sie töten Jungen. Sie töten ihn.«
    Stiers schwarze Augen verengten sich. Wenn es stimmte, dass Sauer
den Jungen getötet hatte, dann wäre Mutters Handlungsweise
durchaus gerechtfertigt. Von jeder Mutter, selbst von einem Vater,
würde man erwarten, ein ermordetes Kind zu rächen.
    Doch nun schob Honig sich vor. »Wie, wie, wie?« Sie
versuchte sich auszudrücken und ahmte mit wabbelndem Bauch
Messerstechen und Strangulieren nach. »Nicht töten. Nicht
berühren. Wie, wie, wie? Junge krank. Junge sterben. Wie,
wie?« Wie hätte meine Mutter das wohl tun
sollen?
    Mutter hob das Gesicht zur Sonne empor, die durch einen
wolkenlosen, weißblauen Himmel zog. »Heiß«,
sagte sie. »Sonne heiß. Sonne nicht berühren. Sie
nicht berühren. Sie töten.« Fernwirkung. Die
Sonne muss die Haut nicht berühren, um dich zu wärmen. Und
Sauer musste meinen Sohn nicht berühren, um ihn zu
töten.
    Nun lag wirklich Angst auf ihren Gesichtern. Es gab viele
unsichtbare, unbegreifliche Todesursachen in ihrem Leben. Die
Vorstellung, dass eine Person solche Kräfte zu kontrollieren vermochte, war jedoch neu und Furcht erregend.
    Mutter lächelte gezwungen. »Sicher. Sie tot. Sicher
nun.« Ich habe sie für euch getötet. Ich habe den
Dämon getötet. Vertraut mir. Sie hielt den Schädel
hoch und strich über die Hirnschale. »Sag mir.« Und so
war es gewesen.
    Stier schaute Mutter grimmig an. Er stampfte knurrend auf und
richtete die Axt gegen ihre Brust. »Junge tot. Nicht sagen.
Junge tot.«
    Sie lächelte und legte den Schädel wie den Kopf eines
Babys in die Armbeuge. Und als sie sie unschlüssig anschauten,
spürte sie, wie ihre Macht größer wurde.
    Honig gab sich damit aber nicht zufrieden. Schreiend und
unartikuliert plappernd wollte sie sich auf Mutter stürzen. Aber
die Frauen hielten sie zurück.
    Mutter ging zu ihrer Hütte. Die Leute, an denen sie
vorbeikam, wichen mit geweiteten Augen zurück.

 
III
     
     
    Die Dürre nahm zu. Ein heißer, wolkenloser Tag folgte
dem andern. Das Land dörrte schnell aus, und die Flüsse
schrumpften zu bräunlichen Rinnsalen. Die Pflanzen verwelkten,
aber wenigstens hatten sie Wurzeln, die man mit Einfallsreichtum und
Kraft auszugraben vermochte. Die Jäger mussten auf der Suche
nach Fleisch weit ausschwärmen und liefen viele Kilometer
über staubigen, sonnendurchglühten Boden.
    Es waren Leute, die im Freien lebten, in Einklang mit der Natur
und den Elementen. Sie reagierten schon auf die kleinsten
Veränderungen in der Welt um sich herum. Und sie alle begriffen
schnell, dass die Dürre immer schlimmer wurde.
    Paradoxerweise brachte die Dürre ihnen aber einen
kurzfristigen Nutzen.
    Als die Dürreperiode einen Monat gedauert hatte, brach die
Gruppe das Lager ab und marschierte zum größten See in der
Gegend, einem großen stehenden Gewässer, das nur in den
schlimmsten Trockenzeiten austrocknete. Hier fanden sie die
Pflanzenfresser – Elefanten, Rinder, Antilopen, Büffel und
Pferde. Vor lauter Durst und Hunger vergaßen die Tiere alles
andere um sich herum. Sie scharten sich um den See und drängten
zum Wasser. Mit den Füßen und Hufen hatten sie das Seeufer
so zertrampelt, dass in dem Morast nichts mehr wuchs. Ein paar Tiere
schafften es aber nicht ans Wasser: die Alten, die ganz Kleinen, die
Schwachen und alle jene, die die letzten Reserven aufbieten mussten,
um diese harte Zeit zu überstehen.
    Die Menschen bezogen neben den Aasfressern Position und sondierten
die Lage. Es hatten sich noch weitere Gruppen von Menschen
eingefunden, sogar andere Arten von Leuten: die brauenwulstigen
trägen Gestalten, die man manchmal in der

Weitere Kostenlose Bücher