Evolution
grasbewachsenen Flussufer entlang.
Er trug nur eine um den Körper gewickelte Tierhaut und hatte
nicht mehr bei sich als einen über die Schulter gehängten
Speer und einen Netzbeutel, der ein paar Knochenwerkzeuge und
Utensilien enthielt – aber keine Steinwerkzeuge. Im Bedarfsfall
war es einfacher, an Ort und Stelle welche anzufertigen als sie zu
transportieren.
Fünfzehn Jahre waren seit dem Tod von Stier und Honig
vergangen und seit Mutter faktisch die Führung der Sippe
übernommen hatte. Schössling war nun in den
Dreißigern. Er war fülliger geworden und die
Gesichtszüge härter. Das Haar lichtete sich schon und wurde
grau. Die Tätowierungen an den Armen und im Gesicht ließen
sich zwar nicht mehr entfernen, aber er hatte Schmutz und Lehm auf
der Haut verrieben, damit sie wenigstens nicht so hervorstachen.
Über die Jahre hatten die Tätowierungen Fremde provoziert,
und das Misstrauen war auch so schon groß genug.
Er machte den Eindruck eines Jägers, der sich weit von seiner
Gruppe entfernt hatte und vielleicht etwas Handel treiben wollte.
Aber er war nicht allein; andere, die im Unterholz am Flussufer
versteckt waren, beobachteten ihn auf Schritt und Tritt. Sein Aufzug
war ein raffiniertes Täuschungsmanöver. Und sein Streifzug
war alles andere als zufällig. Er war ein Späher.
Er wurde von einem Kind entdeckt, einem pummeligen kleinen
Mädchen, das am Wasser mit glatt geschliffenen Kieseln spielte.
Das vielleicht fünf Jahre alte Kind war nackt außer einer
Perlenkette um den Hals. Es schaute erschrocken auf. Er verzog das
Gesicht zu einer grinsenden Fratze. Sie schrie auf und rannte am
Flussufer entlang, wie er sich das vorgestellt hatte. Er folgte ihr
vorsichtig.
Bald sah er die ersten Anzeichen von Besiedlung. Der schlammige
Boden war mit Fußabdrücken übersät, und er sah
über den Fluss gespannte Fischernetze. Und hinter einer scharfen
Flussbiegung sah er die Siedlung selbst. Aus einer Anzahl
annähernd kegelförmiger Hütten stiegen Rauchfäden
in den Nachmittagshimmel.
Das war kein vorläufiges Lager, wie er sofort erkannte. Die
Hütten waren auf kräftigen Holzpfählen erbaut worden,
die man tief in den Boden getrieben hatte. Diese Fluss-Leute waren
schon seit einer Weile hier und beabsichtigten offensichtlich auch,
hier zu bleiben.
Ein Blick auf den Fluss, und er wusste warum. Ein Stück
flussaufwärts war die Vegetation auf beiden Seiten des Wassers
niedergetrampelt worden, und er sah schimmernde Steine im Flussbett.
Dies war eine Furt, wo wandernde Herden den Fluss durchquerten. Die
Leute mussten nicht mehr tun, als darauf zu warten, dass die Tiere
ihnen in die Arme liefen. Und wirklich sah er hinter den Hütten
einen großen Knochenstapel aufgetürmt, der von Antilopen,
Rindern und sogar von Elefanten zu stammen schien.
Am meisten wunderte er sich aber über die Hütten. Sie
hatten massive Wände mit einer Rauchabzugs-Öffnung in der
Kegelspitze, aber sonst keinen Lichteinlass. Wer sollte wohl in einer
solchen Dunkelheit leben?
Zwei Erwachsene rannten auf ihn zu – beides Frauen, wie er
sah. Sie hatten normale Holzspeere und Steinäxte und trugen wie
er einen Lederumhang. Die Gesichter waren mit primitiven, aber wild
aussehenden Ocker-Mustern bemalt, und beide hatten sich Knochen durch
die Nasen gestoßen. Eine der Frauen richtete den Speer auf
seine Brust. »Fu, fu! Ne hai, ne, fu…!«
Er verstand kein einziges Wort. Aber er hörte, dass dieses
unartikulierte Geplapper wie das Kauderwelsch war, mit dem er
aufgewachsen war; ihm fehlte die Struktur, die sich bei Mutters
Leuten zunehmend ausprägte.
Das wäre eine leichte Übung.
Er rang sich ein Lächeln ab. Dann nahm er langsam den Beutel
von der Schulter und ließ ihn auf den Boden fallen. Ohne die
Frauen aus den Augen zu lassen, holte er eine Muschel heraus und
legte sie vor den Frauen auf den Boden. Dann zog er sich mit
ausgebreiteten, leeren Händen zurück. Ja, ich bin
ein Fremder. Aber ich bin keine Bedrohung. Ich will Handel treiben.
Und das habe ich anzubieten. Schaut, wie schön sie
ist…
Die Frauen waren professionell. Eine hielt den Speer auf seine
Brust gerichtet, während die andere sich bückte und die
Muschel in Augenschein nahm.
Die Muschel hatte das Meer seit mindestens zehn Jahren nicht mehr
gesehen und war seitdem über Langstrecken-Handelsrouten Hunderte
Kilometer landeinwärts verschlagen worden. Und dann war sie von
einem der besten Künstler der Leute, einem jungen Mädchen
mit langen, schlanken
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