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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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Schösslings Kunst gegen
die fortschrittlichen Werkzeuge und Artefakte dieser sesshaften
Fremden.
    Als er am nächsten Tag gegen Mittag wieder mit seinen
versteckten Gefährten zusammentraf, hatte er einen Beutel mit
›Warenproben‹ dabei. Und er hatte sich die Lage jedes
Ofens, jeder Feuerstelle gründlich eingeprägt.
    Er hatte das alles für Mutter getan, wie er schon so viele
ähnliche Aufträge für sie ausgeführt hatte. Nur
dass Mutter nicht hier an seiner Seite war und die Arbeit und die
Risiken nicht teilte. In seinem Herzen verspürte er zu seinem
Erstaunen einen Anflug von Ressentiment.
     
    Mutter saß am Eingang der Hütte. Sie saß im
Schneidersitz da und hatte die Hände auf die Knie gelegt. Das
Gesicht hatte sie der Sonne zugewandt, und der Rücken wurde vom
niederbrennenden Feuer der letzten Nacht gewärmt. Sie wurde alt
und dünn und schien leicht zu frieren. In diesem Moment
fühlte sie sich jedoch wohl und verspürte eine gewisse
Zufriedenheit.
    Jeder Quadratzentimeter der Haut war mit Tätowierungen
bedeckt. Selbst die Fußsohlen waren mit Gittermustern verziert.
Sie trug einen Lederumhang, was sie meistens tat, sodass ein
großer Teil des Körperschmucks verborgen war. Die
freiliegenden Körperpartien waren aber farbige, lebendige
Kunstwerke mit springenden Tieren, fliegenden Speeren und
explodierenden Sternen. Und auf einem Holzpfahl neben ihr steckte der
Schädel ihres lange toten Kinds, den sie mit einem aus Baumharz
hergestellten Klebstoff wieder zusammengefügt hatte.
    Sie beobachtete die durcheinander wuselnden Leute bei ihren
täglichen Verrichtungen. Sie warfen ihr Blicke zu und nickten
manchmal respektvoll – oder aber sie wandten sich schnell ab, um
dem Starren von Mutter und ihrem toten Sohn auszuweichen. Doch in
beiden Fällen wurden sie abgelenkt wie Planeten, die am
Schwerefeld eines riesigen schwarzen Sterns vorbeizogen.
    Schließlich war es Mutter, die zu den Toten sprach, Mutter,
die mit der Erde und dem Himmel und der Sonne Zwiesprache hielt. Ohne
Mutter würde es keinen Regen mehr geben, würde kein Gras
mehr wachsen und würden die Tiere fortbleiben. Auch wenn sie nur
stumm hier saß, war sie die wichtigste Person in der
Gemeinschaft.
    Das jetzige Lager war eine Künstlerkolonie. Es war, als ob
Mutter allmählich die ganze Sippe in ihren Kopf, in die von
Geistesblitzen durchzuckte Phantasie eingestellt hätte –
was sie in gewisser Weise auch getan hatte. Die Formen der Tiere,
Leute, Speere und Äxte – und seltsamer Wesen, die
Mischungen aus Leuten und Tieren, Pflanzen und Waffen darstellten
–, sprangen aus jeder Oberfläche: aus den Felsbrocken, die
sich als guter Werkstoff erwiesen hatten und aus den gegerbten
Tierhäuten, die über jede Hütte gespannt waren. Und
verwoben mit diesen gegenständlichen Formen waren die abstrakten
Gebilde, die seit jeher Mutters Markenzeichen gewesen waren: Spiralen
und Wirbel, Gitter und Zickzack-Muster. Diesen Symbolen wohnten viele
Bedeutungen inne. Die Abbildung zum Beispiel einer Elenantilope
vermochte das Tier selbst zu bezeichnen, oder das Wissen der Leute um
sein Verhalten, oder es stand für die Jagd-Aktivitäten, die
erforderlich waren, um es zur Strecke zu bringen – die
Werkzeugfertigung, Planung und Pirsch –, oder für etwas
noch Subtileres, nämlich die Schönheit des Tiers und die
Freude am Leben an sich.
    Schließlich wurden auch im Bewusstsein von Mutter und ihren
Gefolgsleuten die Trennwände zwischen den einzelnen Kammern
niedergerissen. Nun musste sie nicht mehr die ganze mentale
Kapazität für den Umgang mit anderen Leuten reservieren,
während für körperliche Tätigkeiten quasi der
Autopilot eingeschaltet wurde; das Bewusstsein war nicht mehr nur auf
die alte Funktion als Modell fremder Maximen beschränkt. Nun
vermochte sie sich ein Tier als eine Person vorzustellen und ein
Werkzeug als einen Menschen, mit dem sie eine Verhandlung
führte. Es war, als ob die Welt von neuen Arten von Leuten bevölkert wäre – als ob Werkzeuge und Flüsse
und Tiere, sogar die Sonne und der Mond Leute wären, mit denen
man einen ganz normalen Umgang pflegte.
    Nach Jahrtausenden der Stagnation hatte das Bewusstsein sich zu
einem mächtigen Kombiwerkzeug gemausert, was sich in der
Vielschichtigkeit und der Bedeutungsvielfalt der
Kunstgegenstände widerspiegelte – wie Spiegel einer neuen
Art von Bewusstsein. Für die Leute mit den hohen Stirnen war
dies eine Zeit geistiger Reifungsprozesse.
    Und Mutter war auch nicht der

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