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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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dick
und fett werden.«
    Er schloss die Augen und unterdrückte einen Seufzer. Alli,
Alli, immer nur Alli: An manchen Tagen schien ihm nur der Name ihres
älteren Bruders im Ohr zu hallen, der so viel schlauer war als
Jo’on, obendrein noch viel besser aussah und der sein Leben so
gut im Griff hatte. »Eine Schande, dass du keine Kinder von ihm
kriegen konntest«, murmelte er.
    »Was hast du gesagt?«, kläffte sie wie ein
Dingo.
    »Schon gut. Leda, sei doch vernünftig. Wir haben keinen
Feuerstein mehr übrig.«
    »Dann beschaff halt welchen. Geh zur Küste und mach ein
Tauschgeschäft.«
    Er unterdrückte den Drang, ihr zu widersprechen. Die
Beleidigungen außer Acht gelassen, war der Vorschlag
nämlich gar nicht mal schlecht. Außerdem war der hundert
Kilometer lange Pfad zum Meer gut begehbar. »In Ordnung. Ich
werde Alli fragen, ob er mich begleitet…«
    »Nein«, sagte sie und wandte den Blick ab.
    Er runzelte die Stirn. »Wieso nicht?… Du hast gestern
vorm Tanz doch mit deinem Bruder gesprochen. Was hast du ihm denn
gesagt?«
    »Wir hatten Streit«, sagte sie verkniffen.
    »Streit? Worüber?« Nun wurde er doch ungehalten.
»Etwa wegen mir? Hast du mich wieder vor deinem Bruder schlecht
gemacht?«
    »Ja«, zischte sie. »Ja, wenn du es genau wissen
willst. Wenn du also nicht wie ein dummer Junge vor allen dastehen
willst, solltest du ihn in Ruhe lassen. Geh allein.«
    »Aber so eine Reise…«
    »Geh allein.« Sie nahm ein Paddel vom Kanuboden.
»Und nun fahren wir zurück.«
    Es blieb ihm letztlich nichts anderes übrig, als sich
für den einsamen Marsch zur Küste zu rüsten. Doch
bevor er ging, erfuhr er noch die Wahrheit. Beim Gespräch mit
Alli hatte Leda Jo’on nicht etwa angegriffen, sondern ihn gegen
den Spott ihres Bruders verteidigt. Er sprach Leda nicht mehr darauf
an, bevor er ging, aber es wärmte ihm doch das Herz.
    Als er losmarschierte, folgten ihm zwei Dingos aus dem Lager. Er
warf Steine nach ihnen, bis sie knurrend stehen blieben.
     
    Nachdem er den See hinter sich gelassen hatte, wurde er in Stille
eingehüllt. Aus dem flachen roten Erdboden sprossen vereinzelte
silbrige Spinifex-Grasbüschel. Nichts regte sich außer dem
eigenen Schatten zu seinen Füßen. Er ließ den Blick
bis zum Horizont schweifen, ohne dass er einen Menschen gesehen
hätte.
    Australien würde niemals komfortable Lebensbedingungen
bieten. Nach fünftausendjähriger menschlicher Besiedlung
lebten noch immer weniger als dreihunderttausend Leute auf dem ganzen
Kontinent – ein Einwohner auf fünfundzwanzig
Quadratkilometern –, von denen die meisten an den Küsten,
den Flussufern und Seen konzentriert waren. Und im großen roten
Herzen des Kontinents, in der weiten Kalksteinebene und
Salzbusch-Wüste, lebten weniger als zwanzigtausend Leute.
    Jedoch hatten die Menschen trotz der geringen Zahl bereits ihr
kulturelles Netz über Australien geworfen, in Form von
Abfallhaufen, Feuerstellen, Muscheln und Bildern, die sie ins rote
Gestein geritzt hatten. Und Jo’on war so zuversichtlich, dass er
als vierzigjähriger ›Tattergreis‹ allein und nackt in
den roten Staub hinausging, nur mit einem Speer und Woomera
bewaffnet. Er war zuversichtlich, weil die Landschaft einem offenen
Buch glich, in dem das Wissen seiner Familie enthalten war.
    Er folgte der gewundenen Spur der alten Schlange: der Mutter aller
Schlangen, die der Legende nach Ejan begrüßt hatte,
nachdem er von Westen kommend mit dem Boot gelandet war. Und jeder
Meter dieser Spur hatte eine Geschichte zu erzählen, die er auf
dem Marsch rekapitulierte. Die Geschichte war eine Kodifizierung des
Wissens der Leute um das Land: Sie war eine detaillierte und
vollständige ›Anekdoten-Landkarte‹.
    Die wichtigsten Details betrafen die Wasserquellen. Um jede Art
von Wasserloch, um die verschiedenen Felsspalten, Zisternen, hohlen
Bäume und Taufallen rankte sich eine Legende. Bei der ersten
Wasserquelle, an der er Halt machte, handelte es sich um einen Ablauf
im Boden. Die entsprechende Geschichte besagte, dass in früheren
Zeiten sich oft Riesenkängurus hier am Wasser versammelt und
eine leichte Beute abgegeben hatten. Nun waren die Kängurus
verschwunden, und nur ein morscher Eukalyptusbaum wachte noch
über das Wasser.
    Und so weiter. Für Jo’on war das Land ein Kaleidoskop
aus lebendigen Details, als ob es mit Hinweisschildern und Pfeilen
markiert worden wäre – und dabei hatte er diesen Weg erst
einmal im Leben zurückgelegt.
    Solche Legenden markierten

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