Evolution
Fischer-Leute zeigten sich gastfreundlich, allein schon im
Interesse zukünftiger Beziehungen. Sie gaben ihm Essen und
Wasser. Obwohl keiner die Sprache des andern sprach, versuchten sie
sich darüber zu unterhalten, was er auf seiner Reise gesehen
hatte und welche neuen Landmarken ihm aufgefallen waren. Aber sie
waren nicht sonderlich an Tauschhandel interessiert. Sie nahmen zwar
sein Ocker und die magere Fleischausbeute, die er anzubieten hatte.
Aber sie waren nur bereit, das mit einer Handvoll Feuersteine
aufzuwiegen. Besser als nichts, sagte er sich verdrossen.
Die Fischer-Leute ließen ihn über Nacht bleiben.
Er legte sich auf eine Lagerstatt aus getrocknetem Seetang. Sie
stank nach Salz und Fäulnis. Im Licht des herunterbrennenden
Feuers schaute er auf Zeichnungen an der Decke – die mit
Holzkohle, Ocker und einem purpurnen Färbemittel gemalten Bilder
sollten ein Meereslebewesen darstellen. Er sah Abbildungen von
Wombats, Kängurus und Emus, wobei die gemalten Jäger
über den fliehenden Tieren dräuten.
Bei näherem Hinsehen erkannte er jedoch, dass diese Bilder
noch seltsamere Darstellungen überlagerten: Bilder von riesigen
Vögeln, Echsen und Kängurus, die ihrerseits die sie
jagenden Menschen überragten. Diese Bilder mussten älter
sein als diejenigen, die er zuerst gesehen hatte, sagte er sich, denn
sie lagen tiefer. Aber die Abbildungen verwirrten ihn. Er glaubte
nicht, dass sie eine Bedeutung hatten. Vielleicht waren sie von einem
Kind gemalt worden.
Aber da irrte er sich natürlich. Es war eine besondere
Tragödie, dass Jo’ons Generation schon vergessen hatte, was
alles verloren war.
Jo’on legte sich hin und schloss die Augen. Er versuchte, das
geräuschvolle Kopulieren eines Paars in der Ecke zu
überhören und wartete auf den Schlaf. Was Leda wohl sagen
würde, fragte er sich, wenn er nur mit einer Handvoll
Feuersteine nach Hause kam. Derweil tanzten die uralten,
verschwundenen Vögel, die Riesenkängurus und Schlangen,
Diprotodons und Goannas traurig über seinem Kopf im
Feuerschein.
KAPITEL 13
DER LETZTE KONTAKT
Westfrankreich,
vor ca. 31.000 Jahren
I
Jahna verbarg das geschnitzte Mammut in der Hand und näherte
sich dem Knochenkopf-Mädchen.
Das schmutzige und zerlumpte Geschöpf saß untätig
auf dem gefrorenen Erdboden und schaute verdrießlich und mit
einem Anflug von Furcht zu Jahna auf.
Jahna ging in die Hocke und schaute dem Wesen direkt in die Augen.
Sie waren dunkle Kugeln und unter dem großen knochigen
Brauenwulst verborgen, nachdem ihre Art benannt war. Doch hier
hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Im Gegensatz zur
großen, blonden und schlanken Jahna war der Knochenkopf
kleinwüchsig und korpulent – er war ein Ungetüm voller
Kraft. Wo Jahna eine figurbetonte Kleidung aus zusammengenähten
Lederstücken und Naturfasern, mit Stroh ausgestopfte Mokassins,
eine pelzbesetzte Kapuze und eine geflochtene Mütze trug, hatte
die Knochenkopf-Kuh sich in schmutzige, speckige Tierhäute
gehüllt, die mit Sehnenschnüren zusammengehalten
wurden.
»Schau, Knochenkopf«, sagte Jahna und hob die Faust.
»Schau. Mammut!« Dann öffnete sie die Finger
und zeigte ihr die kleine Statue.
Der Knochenkopf quiekte und wich stolpernd zurück, was Jahna
zum Lachen reizte. Man sah fast, wie das träge Hirn der Kuh
arbeitete. Es wollte den Knochenköpfen einfach nicht eingehen,
dass ein Stück Elfenbein auch die Gestalt eines Mammuts
anzunehmen vermochte; für sie hatte ein Gegenstand jeweils nur
eine einzige Bedeutung. Sie waren dumm.
Nun kam Millo angerannt. Jahnas achtjähriger Bruder, ein
kleines quirliges Energiebündel, war mit einem weiten Overall
aus Robbenfell bekleidet. Als Schuhwerk trug er umgestülpte
Möwenbälge, sodass die Füße von den Federn
gewärmt wurden. Als er sah, was sie da tat, entriss er Jahna das
Mammut. »Mir, mir! Schau, Knochenkopf. Schau! Mammut!« Er
stieß die kleine Skulptur nach dem Gesicht der
Knochenkopf-Kuh.
Urin rann an den Beinen der Kuh herab, worauf Millo vor
Vergnügen quietschte.
»Jahna, Millo!« Sie drehten sich um. Da kam ihr Vater,
Rood, ein großer, starker Mann, dessen Arme trotz des
kühlen Frühlingsmorgens unbekleidet waren. Er trug seine
geliebten Stiefel aus Mammutleder und schritt kräftig aus. Er
machte einen fröhlichen und aufgeregten Eindruck.
Bei seinem Anblick vergaßen die Kinder ihr Spiel und rannten
zu ihm hin. Während Millo gewohnheitsmäßig seine
Beine umklammerte, bückte Rood sich und
Weitere Kostenlose Bücher