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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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und Holz, Stein und
Elfenbein war mit Abbildungen von Menschen, Tieren und Pflanzen
verziert: Da waren Löwen, Wollnashörner, Mammuts, Rentiere,
Pferde, Wildrinder, Bären, Steinböcke, ein Leopard und
sogar eine Eule. Die Darstellungen waren indes nicht naturalistisch
– die Tiere sprangen, tänzelten und waren manchmal nur als
huschende Schemen stilisiert. Aber sie enthielten trotzdem viele
Details – von Leuten festgehalten, die über die
Generationen die Tiere, von denen sie abhingen, so gut kennen gelernt
hatten, wie sie sich gegenseitig kannten.
    All diese Formen waren mit Bedeutung beladen, denn jedes Element
war Teil der endlosen Geschichte, durch die die Leute sich selbst und
die Welt begriffen, in der sie lebten. Von wegen nur eine Bedeutung
und ein Zweck; die allgegenwärtige Kunst war ein Ausweis dessen,
dass das Bewusstsein der Leute auf einer höheren Ebene
integriert worden war.
    Aber die Geister des alten ›Schubladendenkens‹ trieben
nach wie vor ihr Unwesen, wie sie es auch in Zukunft tun würden.
Ein alter Mann versuchte einem Mädchen zu zeigen, eine
Feuersteinklinge auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu bearbeiten.
Am Ende war es einfacher für ihn, ihr das Werkzeug abzunehmen
und es ihr vorzumachen, wobei bei der in Fleisch und Blut
übergegangenen Fertigkeit wieder das Unterbewusstsein Regie
führte.
    Diese Leute machten, während sie ihren Verrichtungen
nachgingen, einen kerngesunden Eindruck: Sie waren groß, hatten
geschmeidige Gliedmaßen, strahlten Zuversicht aus, hatten
markante Gesichter und einen makellosen Teint. Aber es gab nur sehr
wenige Kinder.
    Jahna kam an der Hütte des Schamanen vorbei. Der große,
Furcht einflößende Mann war nirgends zu sehen. Er schlief
wahrscheinlich noch nach den anstrengenden Übungen der
vergangenen Nacht, als er sich durch Tanzen und Gesang wieder in
Trance versetzt hatte. Vor der Hütte waren zerbrochene
Schulterblätter von Hirschen und Pferden verstreut. Ein paar von
ihnen waren auf eingekerbte Stöcke gesteckt und ins Feuer
gehalten worden. Auf den ersten Blick vermochte Jahna die
Prophezeiung zu lesen, die das Muster der Brandspuren anzeigte; heute
wäre wirklich ein guter Tag für eine Jagd zu Wasser.
    Obwohl ihre sprachlichen Fähigkeiten schon sehr weit
entwickelt waren, hielten die Leute an fernen und anonymen
Göttern fest. Also stützten sie sich auf ältere
Instinkte. Wie Kieselstein schon gewusst hatte, musste man sich in
einer Situation, in der man sich nicht oder unzureichend zu
artikulieren vermochte, mit einer Kommunikation in Form von
Übertreibung, Wiederholung und Eindeutigkeit behelfen – das
heißt mit einer ritualistischen Kommunikation. Und genauso, wie
Kieselstein einst seinen Vater zu überzeugen versucht hatte,
dass er wegen der nahenden Fremden die Wahrheit sprach, wollte der
Schamane die gleichgültigen Götter nun veranlassen, ihm
zuzuhören, ihn zu verstehen und ihm zu antworten. Das war ein
hartes Stück Arbeit, und alle gönnten ihm den Schlaf.
    Millo und Jahna erreichten die Hütte, die sie mit ihren
Eltern, der kleinen Schwester und ein paar Tanten teilten. Mesni,
ihre Mutter, saß im Zwielicht. Sie räucherte das Fleisch
eines Megaloceros, das sie vor ein paar Tagen von der Beute eines
Löwen abgestaubt hatten.
    »Mesni, Mesni!« Millo lief zu seiner Mutter und
klammerte sich an ihren Beinen fest. »Wir fahren aufs Meer!
Kommst du mit?«
    Mesni umarmte ihren Sohn. »Heute nicht«, sagte sie
lächelnd. »Heute muss ich das Fleisch zubereiten. Deine
arme, arme Mutter. Tut sie dir denn nicht leid?«
    »Nö«, sagte Millo kurz angebunden, drehte sich um
und rannte aus der Hütte.
    Mesni schnaufte, verzog in gespielter Empörung das Gesicht
und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit.
    Der größte Teil des Megaloceros-Kadavers war in einer
Grube deponiert, die man in den Permafrostboden gegraben hatte. Mesni
schnitt das Fleisch mit einem Steinmesser in hauchdünne Scheiben
und hängte es über einen Holzrahmen neben der Feuerstelle.
Nach ein paar Tagen würden die Scheiben hervorragend konserviert
sein; sie waren eine Eiweiß-Quelle, die sich über Monate
hielt. Doch Jahna rümpfte die Nase beim Geruch des Fleisches.
Erst vor einem Monat hatte der Frühling sie in die Lage
versetzt, zu jagen und zu sammeln und Frischfleisch nach Hause zu
bringen. Zuvor hatten sie einen langen Winter überstehen und von
den trockenen Resten der letzten Jagdsaison leben müssen, und
Jahna war des lederartigen, geschmacklosen Zeugs

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