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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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umarmte die Kinder.
Jahna bemerkte, dass sein Atem nach Stockfisch roch. Er
begrüßte sie förmlich mit Namen. »Meine Tochter,
meine Mutter. Mein Sohn, mein Großvater.« Dann fasste er
Millo um die Taille und kitzelte seinen Sohn; der Junge krümmte
sich und entzog sich seinem Griff. »Heute Nacht träumte ich
von Robben und vom Narwal«, sagte Rood. »Ich sprach zum
Schamanen, und der Schamane warf die Knochen.« Er nickte.
»Mein Traum ist gut; mein Traum ist die Wahrheit. Wir werden
aufs Meer hinausfahren und Fische fangen und Robben jagen.«
    Millo hüpfte aufgeregt herum. »Ich will aber auf dem
Schlitten fahren.«
    Rood schaute Jahna fragend an. »Und du, Jahna? Willst du auch
mitkommen?«
    Jahna löste sich aus der Umarmung ihres Vaters und ließ
sich das durch den Kopf gehen.
    Ihr Vater hatte ihr nicht schmeicheln wollen, als er ihr diese
Frage stellte. In dieser Gemeinschaft von Jägern wurden die
Kinder von Geburt an mit Respekt behandelt. Jahna trug den Namen und
somit auch die Seele von Roods Mutter, und so lebte ihre Weisheit in
Jahna fort. Und in Millo wohnte die Seele von Roods Großvater.
Leute waren nicht unsterblich – aber ihre Seelen und ihr Wissen.
Mit Jahnas Namen hatte es aber eine besondere Bewandtnis. Das war
nämlich nicht nur der Name von Jahnas Großmutter, sondern
auch von deren Großmutter: Es war ein Name, dessen
Wurzeln dreißigtausend Jahre tief reichten. Und von den Namen
einmal abgesehen, wie sollten aus Kindern Erwachsene werden, wenn sie
nicht wie Erwachsene behandelt wurden? Also wartete Rood
geduldig. Natürlich würde Jahna sich mit ihrer Meinung kaum
durchsetzen, aber sie würde immerhin zur Kenntnis genommen und
berücksichtigt werden.
    Sie schaute in den Himmel, prüfte die Windrichtung und
schätzte die Zugrichtung der Wolken ein; dann stocherte sie mit
dem Zeh auf dem gefrorenen Boden und schätzte ab, ob er heute
wesentlich auftauen würde. Und sie verspürte wirklich ein
gewisses Unbehagen. Aber die Begeisterung ihres Vaters war
ansteckend, und sie verdrängte den Hauch des Zweifels.
    »Das ist weise«, sagte sie ernsthaft. »Wir werden
aufs Meer hinausfahren.«
    Millo sprang seinem Vater mit einem Jubelruf auf den Rücken.
»Der Schlitten! Der Schlitten!« Gemeinsam gingen die drei
zum Dorf zurück.
    Während der Unterhaltung hatten sie die Knochenkopf-Kuh
völlig ignoriert, die zusammengekrümmt und zitternd im
Dreck lag. Urin lief ihr an den Beinen herunter.
     
    Im Dorf wurden bereits Vorbereitungen für die Jagd
getroffen.
    Im Gegensatz zur Elendssiedlung der Knochenköpfe war das Dorf
eine ordentliche Anordnung kuppeiförmiger Hütten. Die
Hütten waren auf einem Rahmen aus Fichtenschösslingen
errichtet, die aus den Wäldern im Süden herbeigeschafft
worden waren. Dann hatte man den Rahmen mit Tierhäuten und
Tundra-Grassoden bedeckt und einen Eingang, Fenster und Rauchabzug in
die Wände geschnitten. Die Böden der Hütten waren mit
Flusskieselsteinen ›gepflastert‹. Und man hatte sogar
befestigte Wege zwischen den Hütten angelegt, damit die Leute
nicht im weichen Tundra-Lehm einsanken.
    Gedeckt waren die Hütten mit mächtigen Mammutknochen
oder Megaloceros-Hauern. Mit diesen Panzerdächern wollte man
einmal die Hütten wetter- und winterfest machen, und zum andern
wollte man sich des Schutzes durch die Tiere vergewissern: Die Tiere
wussten nämlich, dass die Menschen ihnen das Leben nur dann
nahmen, wenn sie es tun mussten und verliehen dafür den
Behausungen der Leute ihre enorme Kraft.
    Es lag eine Aura der Geschäftigkeit und Vorfreude in der
Luft.
    Ein großer Jäger – Olith, Jahnas Onkel –
besserte mit einer feinen Knochennadel ihre Hirschlederhose aus.
Andere fertigten auf einer kleinen Freifläche, die als Werkstatt
diente, Netze, Körbe und mit Widerhaken besetzte Harpunen aus
Knochen und Elfenbein an. Weber stellten an Webstühlen Kleidung
aus Pflanzenfasern her. Die Bekleidung der Leute bestand wegen der
guten Wärmeisolierung und Haltbarkeit meistens aus Leder, aber
es gab auch modische Accessoires aus Webstoff – Röcke,
Bandeaus, Haarnetze, Schärpen und Gürtel. Dieses Geschick
in der Herstellung von Schnürungen reichte viele zehntausend
Jahre zurück und war aus der Notwendigkeit entstanden, eine
Alternative zu Tiersehnen zu finden, um Flöße und Kanus
zusammenzubinden.
    Alle trugen Schmuck in Form von Anhängern, Halsbändern
und Perlen, die als Applikationen die Kleidung zierten. Und jede
Oberfläche, jedes Werkzeug aus Knochen

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