Evolution
verschanzten sie sich in ihrem
Schneehaus.
Wir sind hier sicherer als vorige Nacht, sagte Jahna sich, als sie
sich aneinanderkuschelten, um sich gegenseitig zu wärmen. Morgen
müssen wir aber auf Nahrungssuche gehen.
Und wir müssen ein Feuer bauen.
II
Die Jäger kehrten vom Meer zurück. Sie verteilten sich
auf ihre Familien und lieferten die Nahrung ab, die sie mitgebracht
hatten. Es fanden jedoch keine Danksagungen statt. Diese Leute hatten
nämlich keine Worte für bitte und danke, weil
es bei diesen Jägern und Sammlern nämlich keine sozialen
Ungleichheiten gab, die solche Nettigkeiten erfordert hätten.
Die Nahrung wurde einfach je nach Bedürftigkeit verteilt.
Jahna und Millo waren das vorherrschende Thema.
Mesni, die Mutter von Millo und Jahna, rang sichtlich um
Beherrschung. Sie ging den täglichen Verrichtungen nach,
versorgte ihr Kind, nahm Fisch aus und bereitete die anderen
Meeresfrüchte zu, die Rood mit nach Hause gebracht hatte.
Manchmal legte sie jedoch das Messer oder die Schüssel weg, gab
sich der Verzweiflung hin und weinte.
Der Kummer brachte sie noch um den Verstand – diesen Eindruck
hatte Rood jedenfalls. Die Leute hielten sich ihren Gleichmut und
Selbstbeherrschung zugute. Zorn oder Verzweiflung offen zu zeigen war
die Verhaltensweise eines kleinen Kindes, das es nicht besser
wusste.
Und was Rood selbst betraf, so zog er sich in sein Schneckenhaus
zurück. Er streifte im Dorf und im Umland umher und versuchte,
seine Scham und Trauer mit unbewegter Miene zu kaschieren. Es gab
nichts, was er für Mesni zu tun vermochte. Er wusste, dass sie
sich mit dem Verlust abfinden und wieder zu innerer Ruhe und
Selbstbeherrschung zurückfinden musste.
Aber es war tatsächlich ein schwerer Verlust für die
Gemeinschaft. Sie waren nicht sehr viele. Dieses kleine Dorf bestand
im Wesentlichen aus ungefähr zwanzig Leuten, die sich auf drei
große Familien verteilten. Sie waren Teil eines
größeren Clans, der sich in jedem Frühling an einem
Flussufer im Süden versammelte und ein großes Fest mit
Tauschhandel, Partnertausch und Geschichtenerzählen
veranstaltete. Obwohl sie von weit her kamen, fanden sich doch nie
mehr als etwa tausend Leute zu den Versammlungen ein: Die Tundra
erlaubte keine höhere Bevölkerungsdichte.
In späteren Zeiten würden Archäologen Artefakte
finden, die Leute wie Rood hinterlassen hatten und sich fragen, ob es
sich dabei unter anderem auch um Fruchtbarkeitssymbole handelte. Das
traf allerdings nicht zu. Fruchtbarkeit war nie ein Problem für
Roods Leute. Ganz im Gegenteil: Sie mussten sogar Geburtenkontrolle
betreiben. Die Leute wussten nämlich, dass sie die
Tragfähigkeit des Landes, von dem sie lebten, nicht
überstrapazieren durften und dass sie für den Fall einer
Naturkatastrophe beweglich bleiben mussten.
Also achteten sie darauf, nicht zu viele Kinder in die Welt zu
setzen. Geburten fanden im Abstand von drei bis vier Jahren statt,
und um diese Abstände einzuhalten, gab es eine Reihe von
Maßnahmen. Mesni hatte Jahna und Millo bis ins fortgeschrittene
Kindesalter gestillt, um ihre Fruchtbarkeit zu unterdrücken.
Schlichte Abstinenz oder Petting erfüllten denselben Zweck. Und
wie immer ereilte der Tod die ganz Kleinen. Krankheiten, Unfälle
und Raubtiere rafften zuverlässig einen großen Teil der
Schwachen dahin.
Und falls erforderlich – obwohl Rood dankbar war, dass ihm
das bisher erspart geblieben war –, falls ein gesundes Kind auf
die Welt kam, für das wirklich kein Platz war, vermochte man dem
Tod zur Hand zu gehen.
Solang sie eine bestimmte Anzahl nicht überschritten, waren
Roods Leute selbst hier am Rand der bewohnbaren Welt gut versorgt,
hatten viel Spaß und erfreuten sich dank der nicht
hierarchischen, auf gegenseitigem Respekt beruhenden Gesellschaft
eines kerngesunden Körpers und Geists. Rood lebte in einem
schlammigen, halb gefrorenen Paradies – auch wenn dafür ein
Preis zu zahlen war in Form unzähliger junger Leben, die unterm
Deckmantel der kalten Dunkelheit ausgelöscht wurden.
Millo und Jahna waren von dieser grausamen Selektion aber
verschont geblieben.
Sie waren zu einem Zeitpunkt auf die Welt gekommen, als ihre
Eltern sie sich hatten ›leisten‹ können. Sie hatten
die Risiken der frühen Kindheit überstanden und hatten sich
zu gesunden und intelligenten Kindern entwickelt. Jahna hatte sich
der Menarche genähert, sodass Rood schon mit seinem ersten
Enkelkind gerechnet hatte. Und nun hatte er diese ganze
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