Evolution
nun?«, flüsterte Millo. »Hier können wir nicht bleiben.«
»Nein.« Jahna schaute sich um und sah, dass ihr Sims an
der Klippe zu einer Höhle hinunterführte, die ein paar
Mannhöhen tiefer lag. »Diese Richtung«, sagte sie.
»Ich glaube, das ist eine Höhle.«
Er nickte knapp. Dann ging er vor ihr den schmalen Sims entlang,
wobei er sich an der Kalksteinwand festhielt. Aber sie wurde sich
bewusst, dass er größere Angst hatte, als er sich
eingestehen wollte.
Schließlich hatten sie den riskanten Abstieg bewältigt,
betraten die Höhle und warfen sich keuchend auf den Boden. Die
in den Kalkstein führende Höhle verlor sich in der
Dunkelheit. Der Boden war mit Guano und Eierschalen
übersät. Er musste als Nistplatz dienen, vielleicht
für Möwen. Und der Boden war mit schwarzen Stellen
übersät – keine richtigen Feuerstellen, aber
offensichtlich Brandherde.
»Schau«, sagte Millo staunend. »Muscheln. «
Er hatte Recht. Die kleinen Schalentiere waren zu einem niedrigen
Haufen gestapelt und von Feuersteinsplittern umgeben. In einem Anflug
von Neugier fragte sie sich, wie sie wohl hierher gekommen waren.
Aber der Hunger verdrängte diese Frage, und die beiden machten
sich über die Muscheln her. Sie versuchten die Schalen mit
Fingern und Steinklingen aufzubrechen, aber die harten Dinger
sperrten sich und ließen sich nicht knacken.
»Graah.«
Die beiden wirbelten herum.
Die heisere Stimme war aus der Dunkelheit im hinteren Bereich der
Höhle gedrungen. Eine Gestalt kam ans Licht. Es war ein
kräftiger Mann, in einen Umhang aus Hirschleder
gehüllt… nein, sagte Jahna sich, kein Mann. Er hatte
eine große, vorspringende Nase, stämmige Beine und
große Hände. Das war ein Knochenkopf, ein ausgewachsenes
Männchen. Er schaute sie finster an.
Die Kinder wichen zurück und klammerten sich aneinander.
Er hatte keinen Namen. Sein Volk gab sich keine Namen. Aber er
betrachtete sich selbst als den Alten Mann. Und er war mit
vierzig Jahren wirklich alt, alt jedenfalls für seine Art.
Er hatte seit dreißig Jahren allein gelebt.
Er hatte gerade im rückwärtigen Bereich seiner
Höhle im anheimelnden Schein der blakenden Fackeln, die er dort
abbrannte, ein Nickerchen gemacht. Den Vormittag hatte er damit
zugebracht, den Strand unterhalb der Höhle bei Ebbe nach
Schalentieren abzusuchen. Am frühen Abend wäre er sowieso
aufgewacht, denn der Abend war seine bevorzugte Tageszeit.
Aber er war vom Lärm und der Unruhe am Eingang zur Höhle
gestört worden. In der Annahme, dass Möwen – oder
etwas noch Schlimmeres wie beispielsweise ein Polarfuchs – sich
über seine Muschelvorräte hermachen wollten, war er
aufgestanden, um nachzuschauen.
Aber es waren weder Möwen noch Füchse, sondern zwei
Kinder. Ihre Körper waren groß und spindeldürr, die
Gliedmaßen schwindsüchtig und die Schultern schmal. Die
Gesichter waren platt, als ob sie durch einen wuchtigen Schlag
eingedrückt worden wären, das Kinn war spitz und die
Köpfe wölbten sich zu komischen Schwellungen auf wie
große Pilze.
Dürre Leute. Immer die Dürren. Er verspürte eine
große Müdigkeit und einen Anflug der Einsamkeit, die ihn
einst in jedem wachen Moment geplagt und seine Träume vergiftet
hatte.
Fast ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, ging er auf
die Kinder zu. Die Hände hatte er ausgestreckt. Er hätte
ihnen die Schädel mit einer schnellen Bewegung zerquetschen oder
sie wie zwei Vogeleier aneinander schlagen können, und das
wäre es dann gewesen. Auf dem steinigen Strand unterhalb der
Höhle lagen die Knochen von mehr als einem dürren
Räuber, und es würden auch noch ein paar dazukommen, ehe er
zu alt wurde, diese seine letzte Bastion zu verteidigen.
Die Kinder fassten sich quiekend an der Hand und liefen zur Wand
der Höhle. Aber das größere Kind, ein Mädchen,
schob das andere hinter sich. Es hatte eine Heidenangst, das sah er,
aber es versuchte den Bruder trotzdem zu beschützen. Und es
behielt die Nerven. Der Junge machte sich vor Angst nass, aber das
Mädchen hatte sich unter Kontrolle. Es griff in den Mantel und
zog etwas hervor, das an einer Schnur um den Hals baumelte. »Knochenkopf Knochenkopf-Mann! Lass uns in Ruhe und ich gebe
dir das. Schöner, schöner Zauber,
Knochenkopf-Mann.«
Die tief in den Höhlen liegenden Augen des Alten Mannes funkelten.
Der Anhänger war ein Stück Quarz in Form eines kleinen
glitzernden, transparenten Obelisken; die Seiten waren so glatt
geschliffen, dass sie funkelten,
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