Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Baumgrenze einen Schlenker nach
Norden machte, sodass sie ein Waldstück durchqueren mussten. Die
Bäume, Kiefern und Fichten, standen weit auseinander und waren
zudem recht kümmerlich: Die Stämme wirkten dünn und
zerbrechlich. Der Pfad, dem die Kinder folgten, war ein von Hirschen
oder Ziegen geschaffener, mit weichem Moos überzogener
Wildwechsel. Er schlängelte sich zwischen den Bäumen
hindurch und verlief gelegentlich durch offenes Gelände.
    Als am Ende eines neuen tristen Tages wieder einmal die Sonne
unterging, warfen die Bäume lange Schatten, und das Unterholz
färbte sich schwarz. Jahna und Millo waren fünf Millionen
Jahre von Capo, ihrem letzten im Wald lebenden Vorfahren entfernt,
und für sie war der Wald ein Hort voller Ungeheuer und
Dämonen. Sie eilten ängstlich weiter.
    Schließlich kamen sie aus dem Wald heraus und betraten ein
verschneites Grasland, wo die gelbe Grasnarbe an der
zerklüfteten Abbruchkante einer Klippe endete. Dahinter rauschte
das Meer, und in der Ferne stöhnte und knackte das Packeis
– insofern nichts Neues.
    Nur dass die Kinder auf eine Wand aus Fleisch und Geweihen
schauten. Es war eine Herde Megaloceros, die man später als
›Irische Elche‹ bezeichnen würde. Die massigen Tiere
streiften umher und knabberten an den Grastrieben, die vorwitzig aus
den verstreuten Schneefeldern lugten.
    Im Pulk war ein großes Männchen. Über seine lange
Nase visierte es die Kinder an. Es hatte einen fleischigen Buckel,
einen Fetthöcker, der ihm über harte Zeiten hinweghelfen
sollte; zum Frühlingsanfang war der Buckel jedoch schlaff. Und
das Geweih, dessen Schaufeln doppelt so lang waren wie ein Mensch
groß, war eine große, schwere Skulptur, die irgendwie wie
die offenen Hände eines Riesen anmutete und in fingerartigen
Zinken auslief.
    Allein diese Herde, die die Kinder nicht zu überschauen
vermochten, bestand aus ein paar tausend Tieren. Wie so viele
große Pflanzenfresser in dieser paradoxerweise reichen Zeit
lebte der Megaloceros in riesigen Herden und wanderte durch die Alte
Welt, vom heutigen Großbritannien bis nach Sibirien und China.
Und diese gewaltige Herde wälzte sich nun auf Jahna und Millo
zu, als eine langsam vorrückende Barriere aus klappernden
Schaufeln und rumorenden Mägen. Die Luft war vom bestialischen
Gestank nach Moschus und Kot förmlich geschwängert.
    Die Kinder mussten unbedingt von hier verschwinden. Jahna erkannte
auf den ersten Blick, dass sie die Herde nicht landeinwärts zu
umgehen vermochten; dazu war sie von der Anzahl und Ausdehnung zu
groß. Die Tiere würden sicher nicht weit in den Wald
eindringen, aber dadurch würden die Kinder trotzdem wieder in
diese unheimliche Finsternis zurückweichen müssen, der sie
sich nun wirklich nicht mehr aussetzen wollte.
    Aus einem Impuls heraus fasste sie ihren Bruder an der Hand.
»Komm zur Klippe!«
    Sie rannten über das gefrorene Gras. Die Klippe fiel hinter
einer Kante aus Erdreich steil ab. Eilig stiegen die Kinder ab. Der
Bogen auf Jahnas Rücken verhakte sich in Felsvorsprüngen
und verlangsamte den Abstieg. Aber sie schafften es dennoch. Sie
kauerten sich auf einem schmalen Sims zusammen und schauten zur
schwarzbraunen Flut hoch, die träge an der Kante der Klippe
entlang wogte.
    Das riesige Männchen schaute dumm. Dann wandte es sich mit
gesenktem Kopf ab.
    Die Schaufeln waren eine schwere Bürde und mit einer Hantel
zu vergleichen, die man auf Armlänge hält. Der Hals des
Männchen war deshalb mit mächtigen Wirbeln und Muskeln wie
Kabelsträngen verstärkt worden, um diese Last zu tragen.
Die Schaufeln waren ein sexuelles Signal und eine Waffe; es war ein
eindrucksvolles Bild, wenn zwei dieser riesigen Männchen mit
gesenkten Köpfen zusammenstießen. Dennoch gruben die Tiere
sich mit diesen Schaufeln quasi ihr eigenes Grab. Wenn das Eis sich
zurückzog und ihr Lebensraum schrumpfte, würde ein
Selektionsdruck hin zu kleineren Körpern erfolgen. Während
andere Spezies durch Schrumpfung sich anpassten, sollten die
Megaloceros sich als unfähig erweisen, dem sexuellen
Imponiergehabe zu entsagen. Sie hatten sich überspezialisiert,
trugen zu schwer am mächtigen Geweih und waren letztlich nicht
mehr imstande, auf Veränderungen zu reagieren.
    Die Kinder hörten ein gedämpftes Knurren. Jahna glaubte
eine fahle kleine, gedrungene Gestalt zu sehen, die sich wie ein
muskulöser Geist durch den Schnee bewegte und dem Wild folgte.
Es war vielleicht ein Höhlenlöwe gewesen. Sie
schauderte.
    »Was

Weitere Kostenlose Bücher